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Volksfest

Volksfest

Titel: Volksfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Nikowitz
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hatte, das ihn vergessen ließ, wer er war. Eine qualvolle Nüchternheit machte sich in ihm immer breiter. Aber zum Glück wusste er Abhilfe: den Grasel.
    Der Grasel hieß eigentlich Alex Wimberger. Der Grund für seinen Spitznamen war nicht etwa, dass Alex im Gedenken an den legendären Räuberhauptmann Grasel den alten Vetteln von der Legio Mariae auf dem Weg zum wöchentlichen Betmarathon aufgelauert und ihnen die Rosenkränze entwunden hätte.
    Vielmehr hatte sich Grasel schon früh bei der Dorfjugend beliebt gemacht, indem er seinen in der Gartenbauschule professionalisierten grünen Daumen vor allem bei der Aufzucht von Cannabis-Stauden auf dem elterlichen Misthaufen voll zur Geltung gebracht hatte. Und der Grasel war im schwierigen Wulzendorfer Mikroklima sogar so erfolgreich gewesen, dass er den Teil der Ernte, den er nicht selbst verrauchte oder seinen Freunden schenkte, über die Grenzen Wulzendorfs hinaus hatte exportieren können. Vom Erlös hatte er sich ein kleines Café zur Tankstelle seines Vaters gebaut, die am Bernhardsau zugewandten Ortsende lag.
    Da Suchanek seine Eltern ja nun nicht zum Bus gebracht hatte, waren sie mit ihrem eigenen Auto hingefahren. Und das parkte jetzt klarerweise immer noch mutterseelenallein in der Wildnis. Sein Vater hasste das. Selbst unter den Palmen des Mainau-Grafen würde er wahrscheinlich an nichts anderes denken können als an die ungeheuren Gefahren, denen ein neun Jahre alter Mittelklassewagen ohne jeglichen Begleitschutz in einer gemeingefährlichen Gegend wie Central Wulzendorf ausgesetzt war. Aber wenn Suchanek ihn im Zuge einer kleinen Einkaufstour zum Grasel in den sicheren Hafen von Fort Suchanek zurückholte, konnte er vielleicht verhindern, dass ihn sein Vater bei der Rückkehr wieder mit den Händen vorm Gesicht begrüßte. Andererseits war das Auto sicherlich einen guten Kilometer entfernt. Wenn nicht eineinhalb. Für einen Fußmarsch also doch eine gewaltige Distanz. Außerdem durfte man bei so einer entbehrungsreichen Reise durch zwar dünn, aber eben doch besiedeltes Gebiet das Risiko, auf Eingeborene zu treffen, schon an normalen Tagen nicht unterschätzen. Und heute war kein normaler Tag.
    Es war schon in der Früh, als er am Feuerwehrhaus und dem gleich daneben liegenden Fußballplatz vorbeigefahren war, nicht einmal mit Suchaneks immer noch recht schmalen Augen zu übersehen gewesen: Da stand ein Bierzelt. Denn heute startete das Wulzendorfer Volksfest. Traditionellerweise das größte in der ganzen Gegend. So viel gesoffen wie in diesen stets mit Christi Himmelfahrt beginnenden vier Tagen wurde nicht einmal am Bernhardikirtag bei den geliebten Nachbarn – obwohl man sich auch dort wirklich Mühe gab. Das Gelage diente, wie alle unter dem Ehrenschutz rühriger Landtagsabgeordneter stehenden Alkoholexzesse in Österreich, einem guten Zweck: Veranstalter war die Freiwillige Feuerwehr Wulzendorf. Und die schaffte mit dem Reingewinn alljährlich nützliche Ausrüstungsgegenstände an, die sie sich ansonsten niemals leisten hätte können, ohne die aber moderne Feuerwehrarbeit undenkbar war. Da brauchte man zum Beispiel nur an die hydraulische Blechschere denken, mit der man dann die, die sie mit eiserner Disziplin ersoffen hatten, aus den Autowracks schneiden konnte.
    Wenn er Grasels Telefonnummer gehabt hätte … Naja, selbst wenn. Der würde wohl eher keine Hauszustellung machen. Und außerdem war da noch der Hund. Der würde es vielleicht als Geste des guten Willens verstehen, wenn Suchanek mit ihm einen Spaziergang machte. Eine Viertelstunde später zerrte Suchanek also einen Dackel hinter sich her, dem die Demütigung einer Anleinung durch einen von ihm eher mäßig geschätzten Fremdling sichtlich zusetzte. Wenn sie jetzt auch noch einen anderen Hund trafen, war sein Sozialprestige auf Jahre hinaus im Eimer.
    Suchanek bog von der Sackgasse, die den Namen «Sackgasse» trug und aus der er einst ausgezogen war, um erst recht wieder in einer zu landen, nach links auf die Gstettenstraße ab, die pulsierende Lebensader des gleichnamigen Ortsteils. Der andere lag an der Hauptstraße und hieß blumig «Dorf». Damit war gleich klargestellt, wer in Wulzendorf wo wohnte: im Dorf die, die zuerst da gewesen waren – also die Bauern. Und auf der Gstetten die, die es halt auch geben musste. Diese verspielte Detailverliebtheit in der Namensgebung, dieser generationenübergreifende Beweis für himmelstürmende Kreativität zog sich durch ganz Wulzendorf. Der

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