Voll Speed: Roman (German Edition)
Kapitel 1
Es gibt ein altes Erdmännchensprichwort, das geht so: »Wer allzeit gräbt, hat nie gelebt.«
Gut, ich gebe zu, das ist meine persönliche Variante des Sprichworts. Bei Ma würde ich damit nicht durchkommen. In Wirklichkeit geht es nämlich so: »Wer allzeit gräbt, hat brav gelebt.« Aber das »brav« darin hat mich schon immer genervt. Rufus, mein Klugscheißer-Bruder, meint, an dem Sprichwort könne man unsere protestantischen Wurzeln erkennen. Natürlich hab ich keine Ahnung, was protestantisch bedeutet, und natürlich weiß Rufus das. Nachgefragt hab ich trotzdem nicht. Die Genugtuung konnte ich ihm einfach nicht geben. Bei vielen Zoobesuchern ist ja »Prostata« ein großes Thema, aber ob das jetzt irgendwie zusammenhängt … Außerdem, ich meine, hey, wir kommen ursprünglich aus der Savanne. Keine Ahnung, ob es da Prostata-Wurzeln gibt. Und wenn ja: Wen interessiert’s?
Weshalb ich das erzähle? Nun, ich schätze, ich bin etwas aus der Art geschlagen. Mit dem Graben hab ich es nämlich nicht so. Dafür bin ich Frühaufsteher. Die schönste Zeit des Tages in unserem Zoo ist kurz vor Sonnenaufgang: Wenn die meisten Säuger noch dabei sind, den Schlaf abzuschütteln, sich hinten über dem Okapigehege der Himmel rosa färbt und das neue Kupferdach von Elsas Gehege zu glänzen beginnt. Und bevor die Pfleger kommen und die Besucher hereinströmen. Ich war nie in der Savanne, und, realistisch betrachtet, werde ich da wohl auch niemals hinkommen, aber schöner als im Zoo kurz vor Sonnenaufgang kann es da auch nicht sein.
»Morgen, Ray«, begrüßt mich ein Flamingo.
Ist ein kleiner Wermutstropfen, dass ich auf meinem morgendlichen Rundgang durch den Zoo immer als Erstes den Flamingos begegne, aber hinter deren Haus führt nun mal unser Geheimgang nach draußen. Kaum etwas ist ermüdender als das Gespräch mit einem Flamingo – was ich noch wegstecken könnte, wenn sie sich wenigstens vernünftig verarschen ließen. Ist aber nicht, weil sie bis zur nächsten Begegnung unter Garantie vergessen haben, dass sie verarscht worden sind.
Ich demonstriere das mal eben: »Morgen, Heinz«, antworte ich.
»Du kennst meinen Namen?«, fragt der Flamingo.
»Klar«, lüge ich, »du bist Heinz.«
Er wechselt in Zeitlupe von einem Bein auf das andere. Klares Zeichen von erhöhter Gehirnaktivität. »Ist das ein cooler Name?«, fragt er.
»Kommt darauf an.«
»Worauf?«
»Ob du ein Männchen oder ein Weibchen bist. Als Weibchen Heinz zu heißen wär’ eher uncool.«
»Und … Bin ich ein Weibchen?«
»Seh ich aus wie ein Gynäkologe?«, entgegne ich. Was das bedeutet, weiß ich zufällig.
Damit hab ich den Flamingo intellektuell in eine Sackgasse manövriert, aus der er so bald nicht wieder herausfinden wird. Ich will ihn den einsamen Weiten seiner Gehirnwindungen überlassen, als mich ein zweiter Flamingo fragt: »Weißt du auch, wie ich heiße?«
»Logisch. Du bist Wiesel.«
»Wiesel?«
»Brauchst mich gar nicht so schräg anzugucken. Ich hab dir den Namen schließlich nicht verpasst.«
»Aber das ist doch ein Tier?«
»Beschwer dich bei deinen Eltern.«
Auch er wechselt von einem Bein auf das andere: Bssssssssssss – Bein raus – bsssssssssss – Bein rein. Ein Fahrstuhl schafft in der Zeit locker acht Stockwerke. »Aber ich könnte Männchen oder Weibchen sein – würde beides passen, oder?«
»Stimmt. Wär’ beides uncool.«
Der Flamingo, den ich Heinz getauft habe, hat zwischenzeitlich mit dem Schnabel im Gefieder zwischen seinen Beinen herumgestöbert. »Ich glaube, ich bin ein Weibchen«, sagt er jetzt.
Der andere sieht eine Chance, von seinem eigenen Dilemma abzulenken: »Dann bist du uncool.«
»Du bist doch selber uncool«, wehrt sich Heinz, »schließlich heißt du … Ray, wie heißt der noch mal?«
»Wiesel.«
»Genau. Wiesel. Voll der Doofname, echt.«
Wiesel lässt nervös den Kopf um die eigene Achse rotieren. »Wenigstens bin ich kein Weibchen, so wie du.«
An diesem Punkt ziehe ich mich vornehm zurück, überlasse die beiden einander, schlüpfe durch die Hecke und schlendere lässig Richtung Elefantengehege. Wie gesagt: Könnte ganz lustig sein, so eine Flamingoverarsche. Aber zu wissen, dass die beiden beim nächsten Mal unter Garantie alles vergessen haben werden, verdirbt einem echt den Spaß.
Eigentlich könnte dies ein besonders schöner Morgen sein. Die Blätter an den Bäumen haben sich bereits herbstlich verfärbt und baumeln träge in der schweren
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