Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
nichts mehr zu tun haben mit dem dringenden Bedarf zum Überleben. Und genau dafür bezieht er seinen Lohn, mit dem er sich sein „täglich Brot“ kaufen kann. Fällt der Lohn aus, steht er vor dem Nichts – es sei denn, ihm wird geholfen. Es kann deshalb kaum überraschen, dass Industrialisierung und Urbanisierung in fast allen westlichen Industrieländern irgendwann zum Aufstieg des modernen Sozialstaats führten. In Deutschland waren es in den 1880er-Jahren die Reformen Bismarcks, die erste Weichen stellten – mit einer beitragsfinanzierten Versicherung für diejenigen, die wegen Alter, Krankheit oder Unfallfolgen auf Dauer nicht mehr arbeitsfähig waren.
Es gehört also beides zusammen: das Industrieland und der Sozialstaat. Allerdings sind viele Varianten entstanden, je nach Präferenzen und Prioritäten der jeweiligen Gesellschaft. Die Vereinigten Staaten, ein Land mit einer ungebrochenen Tradition der persönlichen Freiheit und Selbstverantwortung, optierte für ein weitmaschiges soziales Netz. Die meisten europäischen Nationen, fast alle mit tiefen Wurzeln im Feudalismus und mit einem machtvollen Aufstieg der Sozialdemokratie, wählten den Weg einer umfassenden Wohlfahrtspflege. Politisch mögen diese Unterschiede stark ins Gewicht fallen, wirtschaftshistorisch sind sie nicht mehr als verschiedene Varianten der modernen Industriegesellschaft.
So sahen es auch die Zeitgenossen. Sie sprachen von der Großen Depression, was im Rückblick eine Übertreibung ist, weil seit den späten 1870er-Jahren die eigentliche Schrumpfung und dann Stagnation der Wirtschaft ihr Ende fand und wieder ein moderates reales Wachstum einsetzte. Immerhin nahm die gesamtwirtschaftliche Produktion im Zeitraum 1875 bis 1895 im Jahresdurchschnitt noch mit respektablen 2,3 Prozent zu. Dies geschah indes bei im Trend leicht sinkenden Preisen, was sicherlich dazu beitrug, aus der beobachteten Deflation Rück- und damit auch Fehlschlüsse auf eine völlig fehlende Dynamik der Wirtschaft zu ziehen. Unstrittig ist indes, dass die Wachstumskraft bis in die frühen 1890er-Jahre hinein nie mehr die Stärke der Zeit vor 1873 erreichte, selbst nicht in den konjunkturellen Aufschwungphasen von 1879 bis 1882 und 1886 bis 1890, die es durchaus gab, unterbrochen allerdings durch eine ausgeprägte Rezession. 12
Kurzum: Es herrschte wieder über einen recht langen Zeitraum eine einheitliche Lage, ein „Regime“, das tiefe Spuren auch am Arbeitsmarkt hinterließ. Es war wohl durchweg eine Zeit der Unterbeschäftigung, nach allen (unvollkommenen) Indikatoren, die wir zur Verfügung haben. So stiegen die Industrielöhne von 1875 bis 1895 gerade mal im Jahresdurchschnitt mit einer Rate von 0,5 Prozent, was real (bei leicht sinkendem Preisniveau) einem Plus von 1,0 Prozent p. a. entsprach – weit weniger als im Vierteljahrhundert davor. Die Auswanderung erreichte einen Gipfelpunkt: In den 1870er-Jahren verließen rund 1,5 Prozent und in den 1880er-Jahren fast drei Prozent der Bevölkerung das Deutsche Reich, die meisten davon in Richtung der Vereinigten Staaten. Dies ist die höchste Auswanderungsquote, die Deutschland in seiner neueren Geschichte verzeichnet hat, bis heute. 13 Unter den gegebenen wirtschaftlichen Verhältnissen fanden sich offenbar nicht annähernd genug Arbeitsplätze für die rasch zunehmende Zahl an Erwerbspersonen, zumal die Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts recht kontinuierlich mit einem Prozent p. a. wuchs, weitgehend unabhängig von der Lage am Arbeitsmarkt. 14
In den frühen 1890er-Jahren begann sich das Bild abermals zu wandeln, und zwar wiederum zügig, umfassend und dauerhaft. Innerhalb nur weniger Übergangsjahre kehrte das kräftige Wirtschaftswachstum zurück, und mit ihm die Vollbeschäftigung. Es begann damit der dritte Abschnitt seit der Industrialisierung. Sein Name könnte „Wilhelminischer Boom“ lauten, denn er fiel vollständig in die Regentschaft von Kaiser Wilhelm II. Er hielt bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs: Zwischen 1895 und 1913 nahm die gesamtwirtschaftliche Produktion um beeindruckende 76 Prozent zu, im Durchschnitt also 3,2 Prozent p. a., etwa so schnell wie in der ersten großen Phase der Hochindustrialisierung von 1855 bis 1875. Diesmal war es natürlich nicht mehr der Eisenbahnbau, der die wirtschaftliche Führungsrolle spielte, sondern es waren die neuen Industrien mit wissenschaftlich fundierter Technologie, in der Deutschland begann, global eine
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