Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
Vorwort
Hohe Arbeitslosigkeit: Das ist fast vier Jahrzehnte lang der Normalzustand der deutschen Wirtschaft gewesen. Viele von uns können sich eine andere Welt gar nicht mehr vorstellen. Im modernen globalisierten Kapitalismus, so scheint die Erfahrung zu lehren, ist Beschäftigung stets knapp, und die Menschen müssen hart miteinander um die vorhandenen Arbeitsplätze kämpfen. „Uns geht die Arbeit aus“, so lautete denn auch bis in die jüngste Zeit eine gängige Befürchtung mit Ausblick auf die Zukunft der Marktwirtschaft.
Dieses Buch sieht die Zukunft ganz anders. Sein Titel Vollbeschäftigt ist eine Prognose für den Zustand der deutschen Wirtschaft in den kommenden Jahrzehnten. Das Buch selbst ist ein Versuch, diesen Zustand in der Sache zu begründen und in seinen weitreichenden Folgen zu untersuchen. Diese Folgen sind für die Deutschen überwiegend, aber keineswegs ausschließlich positiv. Vor allem: Sie stellen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft vor völlig neue, große Herausforderungen, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Europäischen Union.
Wer in die Zukunft blicken will, der muss die Vergangenheit verstehen. Das Buch ist deshalb auch ein Versuch, die epochalen Veränderungen des deutschen Arbeitsmarkts in ihrem Zusammenspiel von demografischen Trends, wirtschaftlichen Anpassungen und politischen Problemlagen zu erkennen, nachzuzeichnen und zu deuten. Dies geschieht in diesem Buch über weit längere Zeiträume, als sie in der öffentlichen Diskussion üblich sind. Als Volkswirt wandere ich dabei auf den Spuren der Wirtschaftsgeschichte. Ich tue dies in der Überzeugung, dass die Welt anders gar nicht wirklich zu erklären ist. Das hat allerdings seinen Preis: Regelmäßig vereinfache ich die Zusammenhänge drastisch, und häufig überschreite ich die Grenzen meiner Fachkompetenz. Freimütig bekenne ich, dass der Volkswirt in mir dabei auf die Großzügigkeit der Kollegen aus der historischen Wissenschaft hofft. Sie mögen ihm bitte seine Chuzpe nachsehen.
Das Buch wendet sich an eine breite Öffentlichkeit. Es ist deshalb, so hoffe ich jedenfalls, weitgehend frei von Fachjargon. Rein Wissenschaftliches wurde, soweit irgend möglich, in die Anmerkungen verbannt. Der Text ist als volkswirtschaftliche Erzählung konzipiert: Die Leser und der Autor besichtigen gemeinsam die Entwicklungen der Vergangenheit und die Herausforderungen der Zukunft. Ergänzt wird der Gedankengang durch 25 einfache Schaubilder, die an geeigneten Stellen die Argumente des Textes grafisch und statistisch illustrieren. Unabhängig davon gibt es 25 zweiseitige Beiträge, die jeweils grau unterlegt und im Erscheinungsbild des Textes deutlich abgesetzt sind. Sie behandeln Einzelthemen, die zum Haupttext in enger Beziehung stehen. Sie können aber auch unabhängig davon gelesen werden. Sie sind absichtlich in lockerem Ton geschrieben – als Ausdruck der Liebe eines Volkswirts zum Feuilleton.
Thema dieses Buches ist der Arbeitsmarkt. Über vier Jahrzehnte stand er im Zentrum der marktwirtschaftlichen Diskussion in Deutschland. Wenige haben diese so geprägt wie Otto Graf Lambsdorff, der im Dezember 2009 verstarb. Dieses Buch erscheint in Erinnerung an ihn, einen der großen Wirtschaftspolitiker Deutschlands.
Magdeburg, im Juli 2012
Karl-Heinz Paqué
1. Arbeitsmarkt im Umbruch
1.1 Die merkwürdige Krise 2009
„Das hat es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben.“ So formulierte Spiegel Online am 13. Januar 2010, als das Statistische Bundesamt die ersten Zahlen zum Konjunkturverlauf im gerade abgelaufenen Jahr 2009 der Öffentlichkeit vorstellte. Die Aussage stimmte: Mit rund fünf Prozent Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im Vergleich zum Vorjahr 2008 hatte soeben die schwerste Rezession in der bundesdeutschen Geschichte stattgefunden. 1
Experten und Öffentlichkeit staunten. Frühere Einbrüche, die bisher als besonders dramatisch gegolten hatten, erschienen plötzlich wie eher kleine Betriebsstörungen. Erinnern wir uns an die vier schwersten Rezessionen der Nachkriegsgeschichte und deren Veränderungsraten der gesamtwirtschaftlichen Produktion: 1967 waren es minus 0,3 Prozent, 1975 dann minus 0,9 Prozent, 1982 gerade mal minus 0,4 Prozent und 1993 schließlich minus 1,0 Prozent, alles kein Vergleich zu dem, was sich 2009 abspielte. 2 Um eine solche Dimension historisch wiederzufinden, muss man schon in die unglückselige Weimarer Republik zurückblicken. Damals schrumpfte im Sog der
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