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Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Titel: Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Paqué
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1871 geradezu boomartige Züge der Übersteigerung aufwies und schließlich 1873 im sogenannten Gründerkrach endete. Bis dahin hatte der Eisenbahnbau mit seinen weitreichenden Rückwirkungen auf eine Vielzahl differenzierter Zulieferindustrien und durch die Verbesserung der Verkehrsbedingungen am Arbeitsmarkt für einen überaus kräftigen Beschäftigungsschub gesorgt. 9 Dieser verstärkte – bei anhaltendem Bevölkerungswachstum – die Binnenwanderung in die deutschen Industriezentren, während die Abwanderung in die Vereinigten Staaten nach ihrem Hoch in den 1840er-Jahren abflaute, bedingt durch den Boom zu Hause, aber auch die Wirren des Amerikanischen Bürgerkriegs. Bei all dem stiegen die Industrielöhne in Deutschland kräftig an, im Durchschnitt des Zeitraums 1855 bis 1875 um 3,3 Prozent p. a., was bei moderater Preisinflation (etwa 0,4 Prozent p. a.) auf eine Reallohnsteigerung von immerhin 2,9 Prozent p. a. hinauslief. Und dies geschah bei im Wesentlichen freier Lohnsetzung ohne Einfluss von Gewerkschaften, die ja gerade erst dabei waren, in zaghaften Ansätzen zu entstehen. 10
    Der Start dessen, was Wirtschaftshistoriker die „Hochindustrialisierung“ nennen, 11 war also in Deutschland eine lang gedehnte Phase der Vollbeschäftigung. Dabei blieb es aber nicht. Mit dem Gründerkrach 1873 wandelte sich nämlich das Bild recht abrupt und grundlegend. Es folgte die zweite lange, aber ganz andere Wechsellage, die etwa bis Mitte der 1890er-Jahre anhielt. Zwar ging die Industrialisierung weiter, aber sie tat es im Zuge einer Wachstumsschwäche, die fast zwei Jahrzehnte anhielt.
    Arbeitslosigkeit
    Das hässliche Kind der Industrialisierung
    Karl August von Hardenberg war von 1810 bis 1822 preußischer Staatskanzler. Er war nicht nur ein professioneller Politiker, sondern auch ein gebildeter Intellektueller. Hätte ihm allerdings damals einer seiner Beamten berichtet, es herrsche im Land „Arbeitslosigkeit“, er hätte wahrscheinlich gar nicht verstanden, was damit gemeint ist – trotz seiner umfassenden Bildung und staatsmännischen Erfahrung.
    Der Grund ist einfach: Arbeitslosigkeit gab es zu seiner Zeit noch nicht, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie wir den Begriff heute verstehen. Erst die Industrialisierung und – damit verbunden – das Entstehen großer „Industriestädte“ machte die Arbeitslosigkeit zu einer alltäglichen Erfahrung. Denn erst die Industrie sorgte dafür, dass Menschen in riesiger Zahl vom Land in die Städte zogen und dort auf Dauer blieben. Sie begannen, in modernen Fabriken an großen Maschinen und Anlagen tätig zu sein; und solange der „Arbeitgeber“ sie dafür benötigte, war eben Arbeit da. Aber sobald die Nachfrage nach den Produkten der Fabriken einbrach und sie ihren Job verloren, wurden sie „arbeitslos“. Sie zogen dann nicht zurück auf das Land, wo sie oder ihre Vorfahren einmal herkamen, sondern sie blieben in der Stadt, vielleicht sogar räumlich sehr nahe zu ihrem früheren Arbeitsplatz. Ihre Hoffnung war, alsbald wieder einen industriellen Arbeitsplatz zu finden, bei demselben oder einem anderen Arbeitgeber. Sie warteten und suchten. Und dabei lebten sie und ihre Familien in der ständigen Gefahr, ins Elend abzurutschen, bis hin zur Hungersnot. Damit erst war ein neues Problem geboren: die Arbeitslosigkeit, das hässliche Kind der Industrialisierung.
    Erst seither, in Deutschland etwa dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts, lässt sich auch von einem „Arbeitsmarkt“ im modernen Sinne sprechen, also einem zumeist städtischen Ort, wo Angebot und Nachfrage zusammentreffen. In der vorindustriellen Agrarwirtschaft war dies nicht wirklich der Fall: Gab es dort „auf dem Feld“ mehr oder weniger zu tun, dann wurden einfach die Menge und Intensität der Arbeit individuell verändert, ohne „Neueinstellungen“ oder „Entlassungen“. Das Ergebnis waren Schwankungen in Einkommen, Lebensstandard und Versorgung, bis hin zu bitterer Armut. Auch auf dem Lande konnte es Hungersnöte geben. Aber anders als in Industriestädten waren sie nicht das Ergebnis von Arbeitslosigkeit, sondern von Naturkatastrophen wie etwa in Irland Mitte der 1840er-Jahre, als die Kartoffelernte wiederholt verheerend schlechte Erträge brachte. Nicht fehlende Arbeit führte dort ins grausame Elend, sondern der Ausfall dessen, was eigentlich das Ergebnis der Mühe des Landarbeiters sein sollte.
    Ganz anders bei dem modernen Industriearbeiter. Er stellt Produkte her, die in aller Regel

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