Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
Eingangstür öffnen, wird klar, wo sie festgehalten wurden: in einer einsamen Hütte mitten im Wald. Sie hätten sich tagelang die Seele aus dem Leib schreien können, ohne dass sie jemand hört.
Ein Trampelpfad führt hinaus auf eine – wie Lev hofft – größere Straße. Noch einmal versucht er, seinen Knöchel zu belasten, und schneidet wieder eine Grimasse. Also darf er weiterhin den Arm über ihre Schultern legen. Dankbar nimmt er ihre Unterstützung an.
Als sie die Hütte ein gutes Stück hinter sich gelassen haben, erklärt er schließlich: »Ich brauche jetzt wirklich deine Hilfe. Du musst mir helfen, meinen Freund zu warnen.«
Sie tritt einen Schritt beiseite. Er taumelt, findet sein Gleichgewicht aber wieder, bevor er fällt.
»Das werde ich nicht. Dein Freund ist nicht mein Problem.«
»Schau mich an, bitte. Ich kann kaum gehen. Allein schaffe ich das nicht.«
»Ich bring dich in ein Krankenhaus.«
Lev schüttelt den Kopf. »Als ich nach Cavenaugh gegangen bin, habe ich gegen die Bewährungsauflagen verstoßen. Wenn sie mich kriegen, schließen sie mich endgültig weg.«
»Nicht meine Schuld!«
»Ich habe dir gerade eben das Leben gerettet«, erinnert Lev sie. »Vergelt mir das nicht damit, dass du meines zerstörst.«
Sie schaut ihn fast so hasserfüllt an wie bei ihrer ersten Begegnung. »Dieser Teilepirat ist doch längst vor uns bei den Höhlen. Was soll das also?« Dann mustert sie ihn, als ob sie seine Gedanken lesen würde: »Dein Freund ist gar nicht in den Höhlen, was?«
»Nein.«
Sie seufzt. »Natürlich nicht.«
55.
Miracolina
Miracolina neigt nicht zu unbesonnenem Handeln. Alles muss geplant werden und genügend Zeit haben, sich zu setzen, bevor es ausgeführt wird. Auch ihre Flucht aus Haus Cavenaugh war keine spontane Aktion gewesen, sondern das Ergebnis sorgfältiger Planung und Vorbereitung. Das wahnsinnige Vorhaben, mit dem sie hier auf dem Trampelpfad konfrontiert wird, trifft sie allerdings vollkommen unvorbereitet.
»Ich will meine Eltern kontaktieren, bevor ich dir helfe, irgendwohin zu kommen.« Mit dieser Bemerkung ist sie schon in die Verhandlung eingestiegen, denn sie zieht tatsächlich in Betracht, ihn zu begleiten. Vielleicht ist das die Folge einer posttraumatischen Belastungsstörung.
»Du kannst deine Eltern nicht anrufen, sonst wissen sie, dass dein Zehntopferbus von Teilepiraten angegriffen wurde. Das gefährdet die ganze Operation Cavenaugh.«
»Warum bist du weggelaufen, wenn die dir so wichtig ist?«
Er zögert einen Augenblick, verlagert sein Gewicht und verzieht wieder das Gesicht. »Sie machen gute Arbeit«, erklärt er. »Aber es ist einfach nicht mein Ding.«
Diese Antwort verblüfft sie. Seine Motive, seine nicht ganz eindeutige Redlichkeit. Es war leicht, Lev als »Teil des Problems« abzutun, als sie ihn nicht kannte, aber jetzt ist es nicht mehr so einfach. Er ist ein absoultes Rätsel. Dieser Junge sprengte sich beinahe selbst in die Luft, um andere zu töten, und dann bot er sich dem Teilepiraten an, um Miracolina das Leben zu retten. Wie kommt jemand, der keine Achtung vor dem eigenen Leben hatte, dazu, sich freiwillig für jemanden zu opfern, den er kaum kennt? Das steht im Widerspruch zu allen Wahrheiten, die Miracolinas Leben geprägt haben. Die Bösen sind böse und die Guten sind gut, und dass es etwas dazwischen gibt, ist eine Illusion. Es gibt kein Grau.
»Ich kontaktiere meine Eltern und lasse sie wissen, dass ich am Leben bin«, beharrt sie. »Sie brauchen nur zu wissen, dass ich lebe, dann sind sie glücklich.«
»Ein Anruf kann nachverfolgt werden.«
»Wir sind doch unterwegs, oder? Falls meine Eltern wirklich die Jugendbehörde benachrichtigen, wissen die nur, wo wir waren, nicht, wohin wir gehen.« Und dann fragt sie: »Wohin gehen wir überhaupt?«
»Na gut, es ist okay, wenn du deine Eltern anrufst«, lenkt Lev ein. »Aber frag nicht, wohin wir gehen. Je weniger du weißt, desto besser.«
Und obwohl in ihrem Kopf alle Warnleuchten rot blinken, stimmt sie zu: »Gut.« Dann stemmt sie die Hände in die Hüften. »Und du hörst jetzt auf, mir vorzuspielen, dass dein Knöchel wehtut. Das hält uns nur auf.«
Lev verlagert sein ganzes Gewicht auf beide Füße und grinst sie schelmisch an. In diesem Augenblick erkennt Miracolina, dass diese Verhandlung für sie verloren war, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Denn schon bevor er sie gefragt hatte, hatte ein Teil von ihr, der sogar ihr verborgen gewesen war, bereits
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