Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
ihrer Reise verbringen sie im Laderaum eines Greyhound-Busses, wo sie sich hinter dem Gepäck versteckt hatten, als niemand hinschaute. Der Bus fährt von Tulsa nach Albuquerque. Dann sind sie nur noch einen Staat von ihrem Ziel entfernt.
»Sagst du mir irgendwann mal, wo diese Reise endet?«
»Wir fahren nach Tucson«, sagt er ihr endlich, aber mehr verrät er nicht.
Der Bus fährt um fünf Uhr abends ab und ist die ganze Nacht unterwegs. Sie bauen sich zwischen den Gepäckstücken ein einigermaßen bequemes Nest, aber nach ungefähr zwei Stunden Fahrt merkt Lev, dass er ein Problem hat. Selbst in dem stockdunklen, engen Laderaum spürt Miracolina, dass irgendwas nicht stimmt. »Was ist los?«
»Nichts«, antwortet Lev zunächst, aber dann gibt er zu: »Ich muss pinkeln.«
»Na ja.« Es muss Jahre gedauert haben, bis Miracolina diesen überlegenen Ton draufhatte. » Ich habe vorausgedacht und bin im Busbahnhof gegangen.«
Nach zehn Minuten ist Lev klar, dass die Sache böse enden wird.
»Machst du in die Hose?«
»Nein! Lieber explodiere ich.«
»Das habe ich auch schon gehört.«
»Sehr witzig.«
Aber als der Bus über ein holpriges Stück Straße fährt, wird ihm schmerzhaft klar, dass das keine Option ist. Den Laderaum will er auf keinen Fall beschmutzen … Da kommt ihm der Gedanke, dass saugfähiges Material nur einen Kofferreißverschluss von ihm entfernt ist. Er rückt von Miracolina ab und öffnet einen Koffer.
»Du willst jemandem in den Koffer pinkeln?«
»Hast du eine bessere Idee?«
Da fängt Miracolina auf einmal an zu kichern, dann gluckst sie immer lauter und schließlich lacht sie hemmungslos. »Er will jemandem in den Koffer pinkeln!«
»Sei still! Die Leute im Bus können dich hören!«
Aber Miracolina kann nicht anders. Sie hat so einen ausgewachsenen Lachanfall, dass ihr der Bauch wehtut. »Stell dir mal vor, die machen ihren Koffer auf«, japst sie zwischen ihren Lachsalven, »und dann sind ihre Kleider voller Pipi!«
Lev findet das nicht zum Lachen. Er öffnet den Koffer und tastet alles ab, um sicherzustellen, dass es nur Kleider sind und keine elektronischen Geräte, denn das wäre wirklich übel. Miracolina bekommt kaum noch Luft: »Und ich fand es schon schlimm, als in meinem Koffer mal das Shampoo ausgelaufen ist!«
»Shampoo!«, wiederholt Lev. »Du bist ein Genie.«
Er wühlt blind in einem Koffer, dann in einem zweiten, bis er eine Shampooflasche von passender Größe findet. Dann gießt er den Inhalt hektisch in eine Ecke des Laderaums und füllt die Flasche, ohne eine Sekunde zu verlieren, mit wohliger Erleichterung wieder auf. Als er fertig ist, verschließt er die Flasche sorgfältig. Zuerst will er sie zurück in den Koffer legen, besinnt sich dann aber eines Besseren und lässt sie einfach in die hinterste Ecke des Laderaums kollern.
Er seufzt und kehrt zu seinem Platz neben Miracolina zurück.
»Hast du dir die Hände gewaschen?«, fragt sie.
»Gewaschen?«, entgegnet Lev. »Sie sind voller Shampoo.«
Jetzt lachen beide, und wenn sie einatmen, riechen sie den süßlichen Kirschblütenduft, der die Luft um sie herum erfüllt, und davon müssen sie noch mehr lachen, bis sie sich völlig verausgabt haben.
Und in der Stille danach verändert sich etwas. Die Spannung, die seit ihrer ersten Begegnung zwischen ihnen geherrscht hat, verschwindet. Bald lullt das Schaukeln des fahrenden Busses sie in den Schlaf. Miracolina lehnt sich an Levs Schulter, und er rührt sich nicht, aus Angst, sie zu wecken. Er genießt einfach das Gefühl, sie zu spüren – in der Gewissheit, dass sie so etwas niemals tun würde, wenn sie wach wäre.
Und dann sagt sie ohne das geringste Anzeichen von Schläfrigkeit in der Stimme: »Ich vergebe dir.«
Lev merkt, wie sich tief in ihm etwas rührt, wie an dem Tag, als ihm klar wurde, dass seine Eltern ihn niemals wieder bei sich aufnehmen würden. Gefühle drängen nach außen, die sich nicht zurückhalten lassen und für die es auf der ganzen Welt kein Gefäß gibt, das groß genug wäre. Und obwohl er sich bemüht, lautlos zu schluchzen, hebt und senkt sich seine Brust und er kann ebenso wenig aufhören wie Miracolina aufhören konnte zu lachen. Obwohl sie weiß, dass er in Tränen aufgelöst ist, sagt sie nichts, sondern lässt ihren Kopf einfach an seiner Schulter liegen und seine Tränen tropfen in ihre Haare.
Die ganze Zeit über hatte Lev nicht bemerkt, was ihm gefehlt hat. Nicht Bewunderung oder Mitleid hatte er gebraucht,
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