Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
zugestimmt.
56.
Lev
Die Reise zum Flugzeugfriedhof ist anders als beim ersten Mal. Der erste Marsch hatte kein bestimmtes Ziel gehabt, sondern war eher eine langsame Spiralbewegung nach unten gewesen, in einer Zeit, als er geistig so angeschlagen und verletzt war, dass er sich von Klatschern anwerben ließ. Er war vollkommen verloren gewesen und hatte keinen Weg mehr gefunden, mit seinem Zorn fertigzuwerden.
Zuerst war er mit CyFi unterwegs gewesen und dem Typen in CyFis Kopf, der nicht einmal wusste, dass er bereits umgewandelt worden war. Dann hatte Lev sich allein durchschlagen müssen, als leichte Beute für alle Arten von Widerlingen, die sich heimlich an ihn ranmachten wie Moskitos. Sie boten Hilfe oder Unterkunft oder Nahrung an, wollten aber alle nur sein Blut. Ein kurzer Abstecher in ein Reservat der Glücksmenschen gab ihm neue Kraft, aber selbst diese Episode endete mit einer üblen Begegnung mit einem Teilepiraten. Dass Lev als Gesuchter überlebt hatte, hatte ihn gewieft und erfinderisch gemacht. Durch die brutale Taufe mit Lebenserfahrung war er hart geworden. In diesen trostlosen Tagen klang die Vorstellung, sich in die Luft zu sprengen und so viel wie möglich von der Welt mitzunehmen, durchaus verlockend.
Aber jetzt befindet er sich nicht mehr an diesem dunklen Ort und er weiß: Was immer ihm zustößt, er wird nie wieder dort landen.
Damit Miracolina zu Hause anrufen kann, klaut er einem Geschäftsmann das Handy aus der Manteltasche. Wie versprochen ist der Anruf kurz. Sie gibt nicht mehr preis als die Tatsache, dass sie am Leben ist, und unterbricht das Schnellfeuer von Fragen ihrer Mutter, indem sie die Verbindung rasch beendet.
»Zufrieden?«, blafft sie Lev an. »Kurz und schmerzlos.« Sie besteht darauf, dass er das Handy wieder dem ursprünglichen Besitzer in die Tasche steckt, aber der ist längst weg. Also lässt Lev es in die Tasche eines ähnlich gekleideten Mannes fallen.
Da sie kein Geld haben, müssen sie stehlen, was sie zum Leben benötigen. Lev beschränkt sich auf die abgemilderte Variante der Überlebenstricks, die er bei seinem ersten Mal auf der Straße gelernt hat. Sie räumen Schaufenster aus, ohne die Scheiben einzuschlagen, und dringen in Häuser ein, ohne Gewalt anzuwenden. Merkwürdigerweise hat Miracolina keine Probleme mit der Klauerei.
»Ich mache eine Liste von all den Sachen, die wir mitnehmen und wo wir sie mitnehmen«, sagt sie zu ihm. »Alles wird vollständig bezahlt, bevor ich umgewandelt werde.«
Dass sie sich nicht sklavisch an ihren persönlichen Moralkodex hält, weckt in Lev die Hoffnung, er könne sie letztlich doch davon abbringen, dass sie sich unbedingt opfern muss.
Die Zeit drängt, das weiß er. Der Bluthund Nelson wird nicht aufgeben, und sobald er merkt, dass Lev ihn angelogen hat, wird er seine Jagd noch erbarmungsloser fortsetzen. Sie müssen Connor warnen.
Weder Lev noch Miracolina können Auto fahren oder sehen alt genug aus, um durchzukommen, wenn sie es könnten. Und in den üblichen öffentlichen Verkehrsmitteln fallen Jugendliche in ihrem Alter auf wie bunte Hunde. Also bewegen sie sich in den Grauzonen dieser Welt. Sie reisen in den Containern von Sattelzügen mit achtzehn Rädern, wenn es ihnen gelingt, unbemerkt hineinzuschlüpfen; auf den Ladeflächen von Pick-ups, wenn es Planen gibt, unter denen sie sich verstecken können. Mehr als einmal werden sie verjagt, aber nie ernsthaft verfolgt. Zum Glück haben die meisten Leute Wichtigeres zu tun, als zwei Jugendlichen hinterherzurennen.
»Ich hasse, was wir machen und wie wir es machen!«, schreit Miracolina, nachdem sie vor einem besonders aggressiven Brummifahrer weggelaufen sind, der sie, einen eisernen Montierhebel schwingend, fast fünfzig Meter weit verfolgt hat. »Ich komme mir schmutzig vor! Als wäre ich ein Untermensch.«
»Gut«, sagt Lev. »Dann weißt du jetzt, wie sich ein echter EA fühlt.«
Eigentlich findet er es spannend, wieder am Abgrund zu leben. Das erste Mal damals ging es nur um Verrat, Entfremdung und Überleben. Er hasste dieses Leben und hat immer noch Albträume davon, aber jetzt, da er seinen Gefühlen und spontanen Impulsen nachgeben kann, fühlt er sich mit den Adrenalinkicks sehr viel wohler als mit dem Leben als eingesperrter Vogel im Haus Cavenaugh. Ein bisschen von seiner Freude am Überleben scheint auch auf Miracolina abzufärben, denn jedes Mal, wenn sie ungestraft davonkommen, wird sie lockerer. Sie lächelt sogar.
Die längste Etappe
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