Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
Physiotherapie ist er wieder einmal mehr aufgekratzt als erschöpft. Eine Bemerkung seines Therapeuten Kenny spukt ihm noch im Kopf herum.
»Du bist stark, aber deine Muskelgruppen arbeiten noch nicht so gut zusammen.«
Cam wusste, dass das nur so dahingesagt war, aber in den Worten steckt eine Wahrheit, die bei Cam einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlässt wie ein scheußliches Essen.
»Wir müssen deinen Körper eben dazu bringen, dass er die Verknüpfungen herstellt«, hat Kenny gesagt – als wäre Cam eine Fabrik voller streikbereiter Arbeiter oder, schlimmer, einer Horde Sklaven, die zur Arbeit gezwungen werden muss.
In dieser Nacht betrachtet Cam die Narben an seinen Handgelenken, die aussehen wie haarfeine Armbänder und die er sich nun, da die Verbände entfernt worden sind, ungehindert anschauen kann. Er blickt hinab zu der breiten Linie, die sich senkrecht mitten über seinen Brustkorb zieht und dann nach links und rechts abzweigt zu seinen perfekt geformten Bauchmuskeln. Geformt. Wie ein Stück Marmor, der nach der Vision eines Künstlers vom perfekten Körper menschliche Form erhält. Das Haus über den Klippen ist nichts anderes als eine Galerie, und er, Cam, ist ein Kunstwerk, das dort ausgestellt wird. Er sollte wohl das Gefühl haben, etwas Besonderes zu sein, doch er ist einfach nur einsam.
Er betastet sein Gesicht, was ihm verboten wurde. Da betritt Roberta den Raum. Sie weiß, dass er seinen Körper erforscht hat, denn sie hat ihn durch die Kamera, die in der Ecke des Zimmers hängt, beobachtet. Sie ist in Begleitung der beiden Wachleute, weil sie ahnt, dass Cams Gefühle brodeln und überzukochen drohen.
»Stimmt etwas nicht, Cam?«, fragt Roberta. »Sag es mir. Such nach den richtigen Worten.«
Seine Fingerspitzen fahren leicht über sein Gesicht, das mit fremdem Gewebe überzogen ist. Er wagt nicht, es richtig zu berühren, denn er fürchtet, dass er es in seiner Wut zerstören könnte.
Such nach den richtigen Worten …
»Alice!«, sagt er. »Carol! Alice!« Die Worte sind falsch, er weiß es, aber näher kommt er an das, was er sagen will, nicht heran. Ihm bleibt nichts anderes übrig, er muss kreisen, kreisen rund um den gesuchten Gedanken, hilflos taumelnd auf der Umlaufbahn seines Verstands.
»Alice!« Er deutet auf das Badezimmer. »Carol!«
Ein Wachmann grinst wissend, ohne etwas zu begreifen. »Vielleicht erinnert er sich an seine Exfreundinnen.«
»Quatsch!«, fährt ihn Roberta an. »Weiter, Cam.«
Er schließt die Augen, zwingt den Gedanken, Form anzunehmen, doch diese Form hat eine lächerliche Gestalt …
»Walross!« Seine Gedanken sind völlig sinnlos. Er verachtet sich selbst dafür.
Doch dann sagt Roberta: »… und der Zimmermann?«
Sein Blick springt zu ihr. »Ja! Ja!« So willkürlich diese beiden Begriffe zu sein scheinen, so gut passen sie doch zusammen.
»›Das Walross und der Zimmermann‹«, sagt Roberta, »ein absurdes Gedicht, das noch weniger Logik hat als du!«
Er wartet darauf, dass sie zumindest ein paar Punkte für ihn verbindet.
»Es wurde von Lewis Carroll geschrieben. Er ist auch der Autor von …«
»Alice!«
»Ja, er hat Alice im Wunderland verfasst und Alice hinter den …«
»Spiegeln!« Cam deutet auf das Badezimmer. »Hinter den Spiegeln!«, schreit er. »Spiegel! Mein Gesicht! Im Spiegel! Mein Gesicht!«
Es gibt keinen einzigen Spiegel im Haus, zumindest nicht in den Räumen, die er betreten darf. Nicht eine einzige spiegelnde Oberfläche. Das kann kein Zufall sein. »Spiegel!«, ruft er triumphierend. »Ich will in einen Spiegel sehen. Jetzt, sofort! Zeig es mir!« Es ist die klarste Aussage und das höchste Kommunikationsniveau, das er bislang erreicht hat. Sicherlich wird ihn Roberta dafür belohnen!
»Zeig es mir jetzt! Ahora! Maintenant! Ima!«
»Genug!«, sagt Roberta mit Nachdruck. »Nicht heute. Du bist noch nicht so weit.«
»Nein!« Er fasst mit den Fingern in sein Gesicht, diesmal so hart, dass es wehtut. »Es ist Dauger in der eisernen Maske, nicht Narziss am Teich! Sehen wird die Last erleichtern, nicht dem Kamel das Rückgrat brechen!«
Die Wachleute sehen Roberta an, bereit einzuschreiten, Cam festzuhalten, wieder ans Bett zu fesseln, damit er sich nicht verletzen kann. Aber Roberta gibt den Befehl nicht. Sie zögert. Überlegt. Dann sagt sie: »Komm mit.« Sie macht kehrt und geht aus dem Zimmer, gefolgt von Cam und den Wachleuten.
Sie verlassen den Flügel des Hauses, der sorgfältig zu seinem Schutz
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