Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
Dann an eine andere Mutter. Mittagessen in der Schulkantine. Er verbrennt sich die Lippe an einem frisch gebackenen Schokokeks. Am liebsten mag ich sie knackig und heiß. Am liebsten mag ich sie hart und fast verbrannt. Ich bin allergisch gegen Schokolade. Schokolade mag ich besonders gern.
Alles ist wahr, das weiß er. Aber das geht doch gar nicht: Wenn er allergisch reagiert, warum hat er dann so viele wunderbare Schokoladenerinnerungen? Kekse werden aus Mehl gebacken. Aber wo kommt das Mehl her?
»Marathonrätsel geht weiter«, sagt er.
Roberta lächelt. »Der Satz war schon fast vollständig. Hier, trink etwas.« Sie hält ihm das Glas mit der kalten weißen Flüssigkeit hin.
»Milch!«, sagt er erleichtert.
Roberta lächelt. »Hast du schon über deinen Namen nachgedacht?«, fragt sie, während er den ersten Schluck nimmt – und als die Milch ein Stück weichen Keks von seinem Gaumen löst, durchfluten ihn neue Gedanken. Die Geschmackskombination drückt hundert Erinnerungsfetzen durch ein Sieb, und zurück bleiben lauter kleine Diamanten.
Im Schokokeks ist Mehl. Wo kommt noch mal das Mehl her? Fängt mit einem Man. Das elektrische Auge. »Kam …!« Mehl. »Müh …!«
Roberta sieht ihn merkwürdig an.
»Kam … Müh …«, versucht er aufs Neue.
Ihre Augen funkeln und sie sagt: »Camus?«
»Kam … Müh …«
»Camus! Was für ein wunderbarer Name. Du übertriffst dich selber.«
»Kamera!«, bringt er endlich heraus. »Mühle!« Aber Roberta hört schon nicht mehr zu. Ihre Gedanken sind in exotischere Gefilde abgedriftet.
»Camus, der existenzialistische Philosoph! ›Un visage mêlé de rires et de larmes – ein Antlitz, zusammengesetzt aus Lachen und Tränen.‹ Chapeau, mein Freund! Hut ab!«
Er hat keine Ahnung, wovon sie redet, aber wenn es sie glücklich macht, macht es ihn auch glücklich. Es schmeichelt ihm, dass sie beeindruckt ist.
»Dein Name soll Camus Composite-Prime lauten, Verbundmensch Nummer eins.« Ihr Grinsen ist breit wie das glitzernde Meer. »Der Ausschuss wird begeistert sein!«
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Von da an beginnt und endet jeder Tag mit Therapien. Schmerzhaftes Strecken, gefolgt von angeleiteten Übungen und Krafttraining, das anscheinend mit dem einzigen Zweck entwickelt wurde, ihm den größtmöglichen Schmerz zuzufügen.
»Die Arzneimittel schaffen nur einen Teil«, sagt sein Physiotherapeut, ein Bodybuilder mit einer tiefen Stimme und dem unpassenden Namen Kenny. »Der Rest muss von dir kommen.«
Dem Therapeuten scheint es großen Spaß zu machen, ihn leiden zu sehen. Dank Roberta nennen ihn diejenigen, die nicht »Sir« zu ihm sagen, nun »Camus«, doch wenn er diesen Namen hört, sieht er immer einen Topf mit flüssigem Käse vor sich.
»Du meinst Fondue«, erklärt ihm Roberta beim Mittagessen. »Du bist Camus. Das reimt sich zwar, schreibt sich aber ganz anders, mit einem stummen S.«
»Cam.« Er will nicht klingen wie ein Käsegericht. »Machen wir Cam daraus.«
Roberta hebt eine Augenbraue. »Gut. Das lässt sich sicher einrichten. Ich gebe es an die anderen weiter. Wie steht es denn heute mit deinen Gedanken, Cam? Hast du schon das Gefühl, dass sich etwas zusammenfügt?«
Cam zuckt die Schultern. »Ich habe Wolken im Kopf.«
Roberta seufzt. »Mag sein, aber ich sehe ja, dass du Fortschritte machst, auch wenn du es vielleicht nicht merkst. Deine Gedanken werden jeden Tag ein wenig klarer. Du kannst längere Bedeutungseinheiten formulieren, und du verstehst fast alles, was ich sage, stimmt’s?«
Cam nickt.
»Verständnis ist der erste Schritt zu klarer Kommunikation, Cam.« Roberta zögert eine Sekunde, ehe sie fortfährt: »Comprends-tu maintenant?«
»Oui, parfaitement.« Cam merkt erst, dass etwas anders ist, als er die Worte schon ausgesprochen hat. Wieder hat sich in seinem Kopf eine rätselhafte Tür geöffnet.
»Wunderbar«, lobt Roberta mit einem schelmischen Lächeln. »Aber wir nehmen uns mal besser eine Sprache nach der
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