Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
ausgebaut wurde, kommen in Bereiche, die schon weniger nach einem Krankenhaus aussehen. Zimmer mit warmen Holzböden statt des kalten Linoleums. Gerahmte Kunstwerke statt kahler weißer Wände.
Roberta bittet die Wachleute, an der Tür zu warten, und führt Cam in ein Wohnzimmer. Dort sitzen mehrere Personen. Kenny, andere Therapeuten und welche, die Cam nicht kennt. Menschen, die offenbar hinter den Kulissen seines Lebens arbeiten. Als sie ihn sehen, erheben sie sich aus den Ledersesseln und von den Sofas. Sein Auftauchen scheint sie zu beunruhigen.
»Kein Grund zur Aufregung«, erklärt Roberta. »Lasst uns ein paar Minuten allein.« Sie unterbrechen ihre Tätigkeiten und gehen eilig aus dem Zimmer. Cam braucht Roberta nicht zu fragen, wer sie sind, denn er weiß es bereits. Sie sind wie die Wachleute an seiner Tür, die Wachen auf den Felsen, der Mann, der für ihn sauber macht, die Frau, die seine Narben mit Lotion eincremt. All diese Leute sind da, um ihm zu dienen.
Roberta führt ihn zu einem mannshohen Spiegel an der Wand. Cam sieht sich jetzt von Kopf bis Fuß. Er lässt den Krankenhauskittel fallen und steht in Shorts da. Die Form seines Körpers ist wunderschön. Er ist perfekt proportioniert, muskulös und schlank. Einen Augenblick glaubt er, dass er vielleicht doch Narziss ist, gefangen in seiner Eitelkeit – doch als er einen Schritt näher an den Spiegel tritt und sich im vollen Licht betrachten kann, sieht er die Narben. Er wusste, dass sie da sind, aber ihr Anblick ist überwältigend. Sie sind hässlich und sie sind überall – aber nirgendwo treten sie stärker hervor als in seinem Gesicht.
Dieses Gesicht ist ein Albtraum.
Hautstreifen in allen möglichen Farbtönen, wie eine lebendige Patchworkdecke, die sich über Knochen, Muskeln und Knorpelgewebe zieht. Sogar der Schädel – der rasiert war, als er erwachte, aber nun mit einem dünnen Haarflaum bedeckt ist – besteht aus verschiedenen Farben und Strukturen, voneinander abgegrenzt wie Felder, die mit unterschiedlichen Getreidesorten bepflanzt sind. Dieser Anblick schmerzt seine Augen und sie füllen sich mit Tränen.
»Warum?« Mehr bringt er nicht hervor. Er wendet sich von seinem Spiegelbild ab, vergräbt den Kopf in der Armbeuge. Roberta legt ihm sanft eine Hand auf die Schulter.
»Sieh nicht weg«, bittet sie. »Nimm deine Kraft zusammen, und schau dir an, was ich sehe.«
Er zwingt sich, wieder in den Spiegel zu blicken, doch er hat nur Augen für die Narben.
»Monster!«, stößt er aus. Das Wort ist in so vielen verschiedenen Erinnerungsfetzen enthalten, dass er es auf Anhieb findet. »Frankenstein!«
»Nein«, entgegnet Roberta scharf. »So etwas darfst du nicht einmal denken! Frankensteins Monster wurde aus totem Fleisch hergestellt, aber du bestehst aus lebendigem Gewebe! Frankensteins Monster war eine Missachtung alles Natürlichen, ein Verstoß gegen die Naturgesetze, aber du, Cam, bist ein neues Weltwunder!«
Nun blickt sie mit ihm in den Spiegel und zeigt ihm die vielen wunderbaren Teile, aus denen er besteht. »Deine Beine gehörten einem Spitzenläufer«, sagt sie, »und dein Herz hatte einer, der als Olympiaschwimmer hätte antreten können, wenn er nicht umgewandelt worden wäre. Deine Arme und Schultern sind vom besten Baseballspieler, der je ein Ernte-Camp betreten hat. Und deine Hände haben ein wunderbares Talent für das Gitarrenspiel!« Als sie seinem Blick im Spiegel begegnet, lächelt sie. »Und was deine Augen angeht: Die stammen von einem Jungen, bei dessen Anblick sämtliche Mädchenherzen schmolzen.« In ihren Worten schwingt Stolz mit. Es ist ein Stolz, den er nicht teilen kann. Noch nicht.
Roberta legt ihm einen Finger an die Schläfe. »Aber das Beste von allem ist hier drin!« Sie fährt mit dem Finger über den Haarflaum und deutet auf verschiedene Stellen seines Schädels wie auf einem Globus, auf dem sie ihm eine Reiseroute zeigen will.
»Dein linker Frontallappen enthält die analytischen Fähigkeiten von sieben Kindern, die in Mathematik und Naturwissenschaften als hochbegabt getestet wurden. Dein rechter Frontallappen vereint die kreativen Kräfte von mehr als zehn Dichtern, Künstlern und Musikern. In deinem Occipitallappen verlaufen die Nervenbündel mehrerer Wandler, die ein fotografisches Gedächtnis hatten, und dein Sprachzentrum ist international und beherrscht neun Sprachen, die alle nur darauf warten, wiedererweckt zu werden.«
Sie fasst ihn sanft am Kinn und dreht seinen Kopf zu
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