Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
anderen vor, in Ordnung?«
Neue Aktivitäten werden in seinen Tagesablauf eingebaut. Der Mittagsschlaf wird gekürzt, um Platz zu machen für stundenlange Sitzungen an einem Computerbildschirm, der in die Platte eines Schreibtischs eingelassen ist und Cam digitale Bilder zeigt: ein rotes Auto, ein Gebäude, ein Schwarz-Weiß-Porträt – Dutzende von Bildern.
»Such dir immer ein Bild heraus, das du erkennst«, fordert ihn Roberta am ersten Tag dieses Rituals auf, »und sage das erste Wort, das dir dazu in den Kopf kommt.«
Cam ist verunsichert. »Test?«
»Nein«, antwortet Roberta. »Das ist kein Test, sondern eine Übung, mit der wir herausfinden können, woran du dich erinnerst und was du noch lernen musst.«
»Gut«, sagt Cam. »Also doch ein Test.«
Er betrachtet die Bilder auf dem Tischmonitor und zieht, wie Roberta es ihm aufgetragen hat, Objekte, die er erkennt, auf die Seite. Das Porträt: »Lincoln.« Das Gebäude: »Eiffelturm.« Das rote Auto: »Autofeuerwehr. Nein. Feuerwehrauto.« Und so weiter. Kaum hat er ein Bild weggezogen, taucht an seiner Stelle ein neues auf. Manche kann er auf Anhieb benennen, andere sind mit keinem Wort verbunden, und wieder andere erinnern ihn vage an etwas, doch er kann das dazugehörige Wort nicht finden.
Nach dieser Übung ist er völlig erledigt, mehr noch als nach der Physiotherapie.
»Schöpfen«, sagt er. »Schöpfkelle.«
Roberta lächelt. »Erschöpft. Du bist erschöpft.«
»Erschöpft«, wiederholt Cam, um das Wort innerlich zu verankern.
»Das überrascht mich nicht. Das war auch alles andere als einfach, aber du hast es gut gemacht. Wirklich gut, das muss ich schon sagen!«
Cam nickt. »Smiley für mich.« Er braucht jetzt ein Nickerchen.
Jeden Tag wird mehr von ihm verlangt, sowohl körperlich als auch geistig, aber für nichts erhält er eine Erklärung. »Dein Erfolg ist Lohn genug«, meint Roberta. Aber wie soll er einen Erfolg messen, zu dem er keinen Bezugsrahmen hat?
»Abräumen!«, sagt er eines Tages beim Abendessen zu Roberta. Sie sind nur zu zweit. Sie sind immer nur zu zweit. »Reinen Tisch! Jetzt!«
Sie versteht auf Anhieb, was er meint. »Du wirst alles über dich erfahren, wenn die Zeit reif ist. Jetzt noch nicht.«
»Doch!«
»Cam, dieses Gespräch ist beendet.«
Cam spürt Wut in sich aufsteigen und weiß nicht, was er damit anfangen soll. Er kann noch nicht genügend Wörter zusammensetzen, um dem Zorn ein Ventil zu verschaffen. Stattdessen fahren die Emotionen ihm direkt in die Hände, und ehe er weiß, was er tut, schleudert er einen Teller durchs Zimmer, dann noch einen und noch einen. Roberta muss sich ducken, als Geschirr, Besteck und Glas durch die Luft fliegen. Sofort sind die Wachen bei ihm, zerren ihn in sein Zimmer und schnallen ihn am Bett fest – das haben sie seit über einer Woche nicht mehr gemacht.
Er wütet noch eine gefühlte Ewigkeit, bis er sich ausgetobt hat, völlig ausgelaugt ist. Roberta betritt den Raum. Sie blutet. Es ist nur ein kleiner Schnitt über dem linken Auge, aber egal, wie klein er ist, Cam hat das getan. Es war seine Schuld.
Plötzlich treten all seine anderen Gefühle hinter einer Welle der Scham zurück, die ihn nun ebenso heftig erfasst wie vorher die Wut.
»Hab das Sparschwein meiner Schwester zerbrochen«, schluchzt er. »Das Auto meines Vaters kaputt gefahren. Böse. Böse.«
»Ich weiß, dass es dir leidtut.« Roberta klingt so müde, wie er sich fühlt. »Mir tut es auch leid.« Sanft nimmt sie seine Hand.
»Du wirst für deinen Ausbruch bis morgen früh fixiert«, sagt sie. »Was du tust, hat Folgen.«
Er nickt. Das versteht er. Er will sich die Tränen wegwischen, doch das geht nicht, denn seine Hände sind am Bett festgebunden. Roberta tut es für ihn. »Wenigstens wissen wir jetzt, dass du wirklich sehr stark geworden bist. Das haben wir nicht anders erwartet. Es war kein Witz, als es hieß, dass du ein guter Baseball-Pitcher bist.«
Sofort durchforstet Cam seine Erinnerungen. Hat er im Baseball jemals den Ball geworfen? Sein Gehirn mag so zerrissen und zerstückelt sein, dass er manche Dinge nicht so leicht findet, aber wenn eine Erinnerung gar nicht da ist, weiß er es sofort.
»Pitcher nicht«, sagt er. »Nie.«
»Natürlich«, erwidert sie ruhig. »Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe.«
Stück für Stück und Tag für Tag lichtet sich das Dunkel, und Cam wird sich seiner schrecklichen Einzigartigkeit bewusst. Es ist spät am Abend. Nach der
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