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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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Wenn der Umriss dieser Insel eine Täuschung ist, eine Wolkenwand, die wie ein Gebirge aussieht,
dachte er,
oder eine Nebelbank, die für eine Küste gehalten wird, dann werde ich verrückt. Dann kann die Mannschaft erleben, was wirklicher Wahnsinn ist.
    Seth zerrte an seinem Hemdsärmel. Die kleine Hand zeigte mit ausgestrecktem Finger aufs Wasser hinaus, auf ein kreisrundes Riff, das eine dicht begrünte Lagune umschloss. Am Strand flatterten die Blätter dreier Kokospalmen im Wind, und augenblicklich lag Carl der Geschmack des süßlichen Fruchtfleisches auf der Zunge.
    Still war es an Deck geworden. In der Takelage hingen die Männer, an der Reling drängten sie sich. Offenbar wollte jeder die Schönheit der pazifischen Perle, die sie just passierten, bewundern.
    »Da! Ein Weib!«, schrie Edison auf. Ein Raunen strich über Bord, und noch weiter reckten sich die Hälse, um die beste Sicht zu haben.
    Der Kerl besteht nur aus Muskeln und vielleicht noch Augen, die er nutzt, um Weiber auszuspähen
, fuhr es Carl durch den Kopf, und er begann zu zählen. Vierundzwanzig Männer konnte er ausmachen und eine Frau. Und die hatte Edison natürlich als Erster entdeckt.
    Als das Schiff längs der Insel entlangfuhr, liefen die Inselbewohner am Strand mit, ohne jedoch auf die Zurufe der Mannschaftzu reagieren. Sie liefen und trugen ihre Waffen, hölzerne Keulen und Lanzen, eng am Körper. Die Lenden waren mit Schurzen bedeckt, mehr Kleidung trugen die Männer nicht am Leibe. Weitere Frauen tauchten auf, sie hielten sich jedoch im Hintergrund, im Schatten der Palmen, wo auch kleinere Hütten zu erkennen waren.
    Inzwischen hatte das Schiff die Insel umrundet. Immer mehr Männer kletterten aus der Takelage und verließen die Reling. Jeder hatte es gesehen: So wunderschön die Perle dort im Sonnenlicht schimmerte, das Schiff konnte nicht anlegen.
    »Schade«, sagte Carl, und der Kleine nickte.

Paumotu-Archipel, 14.   April 1786
     
    Die Tage wurden zur Qual. Je mehr Riffe und Inseln auftauchten und die Hoffnung beflügelten, man könne endlich vor Anker gehen, umso beengter nahm Carl das Schiff wahr. Das Deck schien zu schrumpfen, und die Wände und Decken der ohnehin beengten Kajüten rückten, da war er sich sicher, unaufhaltsam näher. Unentwegt lungerte er an Deck herum, doch das Bild wiederholte sich: Steinige Riffe ließen es nicht zu, die Inseln anzusteuern, und die, an denen man hätte anlegen können, waren zu karg und zu winzig, um das Schiff zu bevorraten und zu überholen.
    Carl bemerkte, dass die Mannschaft sich in diesen Tagen in zwei Lager spaltete. Die einen waren von der Hoffnung, bald Tahiti zu erreichen, beseelt und verrichteten ihr Tagewerk mit neuer Kraft. Die anderen, denen es so erging wie ihm, wurden von einer lähmenden Müdigkeit befallen. Ihr Gemüt wurde von der beständig aufkeimenden und wieder in sich zusammensinkenden Hoffnung, an Land gehen zu können, geschwächt.
    Carl hatte nicht erwartet, dass ihm so kurz vor der Ankunft die Kräfte schwinden würden, und nicht einmal ausreichender Schlaf änderte etwas an seinem Zustand. Am gestrigen Abend hatte er sich frühzeitig zurückgezogen, und als er jetzt einen Blick aus dem Bullauge warf, verriet ihm der Stand der Sonne, dass der Vormittag weit vorangeschritten war. Er blieb liegen, spürte die Schwere in den Gliedern und tastete mit der Zunge seinen Gaumen ab.
     
    »Marc! Das hat aber gedauert«, begrüßte Carl Mary, als sie sich gen Mittag in Begleitung des Jungen in seine Kajüte schob.
    »Oh, ich dachte, ich müsste mir Gedanken über deinen Zustand machen, aber wie ich sehe, geht es dir gut.«
    »Nein, mir geht es nicht gut. Ich habe beginnenden Skorbut.«
    Ihr Lächeln erstarb, und der Blick strafte ihn, damit nicht zu scherzen.
    »Sieh selbst nach«, seufzte Carl und öffnete den Mund.
    Mary trat näher. »Zunge raus«, forderte sie.
    Gehorsam streckte Carl die Zunge heraus.
    »Wieder reinnehmen.«
    Die Zunge verschwand, und Mary zog die Oberlippe in die Höhe.
    »Es ist unfassbar: Der Mann, der der Mannschaft immer predigt, sie müsse Gemüse und vor allem das gute Sauerkraut zu sich nehmen, erkrankt am Skorbut. Eine Meisterleistung.«
    Seth kicherte und schaute verlegen zu Boden.
    Carl schüttelte den Kopf, doch Mary ließ die Lippe nicht los. Vielmehr winkte sie Seth zu, näherzutreten. Als der Junge neben ihr stand, schob sie die Lippe noch weiter in die Höhe.
    »Sieh, das Zahnfleisch zieht sich zurück. Es ist gerötet, und der

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