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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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nichts dafür, dass du ihn nicht essen kannst.
    Er knuspert beim Kauen, hörst du das?
    Wenn die beiden doch mal aufhören würden, mich anzuschauen.
    Nimm die Finger aus meinem Gesicht, Marc. Ich kann es nicht leiden, wenn man mich anfasst.
    Sie flüstern.
    Was? Ehrlich?
    Hast du das richtig gehört?
    Marc hat gesagt, ich könnte den Verstand verloren haben?
    Das ist nicht wahr, ich tue einfach so, als hätte ich das nicht mitbekommen.
    Ja, etwas zu trinken wäre gut.
    Ich soll nicken, meinst du? Gut, dann nicke ich.
    Tee? Die haben nur Tee? Wie langweilig.
    Naja, ein, zwei Schluck werden nicht schaden.
    Oh! Der Tee ist mit Honig gesüßt! So hat das Mutter immer gemacht. Tee mit Honig. Das ist lecker.
    Nat, warum sind die so nett zu mir?

Pazifischer Ozean, 14.   März 1786
     
    Anfangs hatte er sich immer schlafend gestellt. Den Kopf zur Wand gedreht, hatte er die Augen geschlossen gehalten und sich nicht gerührt. Am zweiten Tag hatte Mary sich verabschiedet, die Tür zufallen lassen und war in der Kajüte stehen geblieben. Kaum hatte der Junge sich allein gewähnt, hatte er sich aufgerichtet. Hatte Mary gesehen und sein Gesicht verzogen, den Rücken gegen die Wand gelehnt und leise mit sich selbst gesprochen.
    Das Buch hatte sie auf eine Idee gebracht.
    Als sie sich am Tag zuvor auf den Weg gemacht hatte, um sein Essen aus der Kombüse zu holen, hatte sie ein Buch aufgeschlagen auf der Seekiste liegen lassen. Bei ihrer Rückkehr lag es auf dem Schoß des Jungen, der konzentriert darin las. Das erschien ihr als eine Möglichkeit: Er wollte nicht sprechen, aber offensichtlich wollte er lesen. Vielleicht würde er auch schreiben wollen?
    Heute war der vierte Tag nach seinem Erwachen. Zeit, ihn aus der Reserve zu locken. Sie öffnete die Seekiste und holte eines der einfachen Skizzenblätter und einen Bleistift heraus.
    »Hier«, Mary legte beides auf seine Decke, »möchtest du vielleicht zeichnen oder schreiben?«
    Die Hände auf der Decke gefaltet, schaute Seth den Papierbogen an. Eine Reaktion blieb aus. Nicht einmal ein Kopfnicken oder Kopfschütteln kam als Antwort.
    »Überlege es dir in Ruhe«, sagte sie und verließ die Kajüte.
     
    Am Abend lag auf der Seekiste ein abgetrennter Streifen des Papierbogens. »
Kann ich bitte noch ein anderes Buch haben? Das habe ich ausgelesen. Danke schön.«
Mary musste ein Lächeln verbergen, als sie die wackelige Schrift las. Unter dem Kopfkissen, das Seth sich in den Rücken geschoben hatte, lugte eine Ecke des restlichen Papiers hervor.

Paumotu-Archipel, 3.   April 1786
     
    Es war ein knittriger Papierfetzen gewesen, den Mary ihm entgegengehalten hatte. Mit ungelenker Handschrift hatte Seth die Frage »
Darf ich dir wieder bei deiner Arbeit helfen?«
daraufgeschrieben. Vor Rührung hatte Carl kein Wort hervorbringen können.
    Mary hatte intuitiv das Schweigen richtig interpretiert und war wortlos verschwunden. Ob es sie wirklich gab, die weibliche Intuition? Vor wenigen Monaten hätte Carl den Gedanken rundheraus abgelehnt, aber diese Frau schien manches Mal seine Gedanken zu erahnen, noch bevor sie in seinem Kopf Form angenommen hatten. Sie hatte dem Jungen in seine Kleider geholfen und ihn nach Wochen das erste Mal wieder in die Offiziersmesse geführt. Aus dem aufgeweckten Kind war ein Schatten geworden, ein stummer Schatten, der ihr von nun an überallhin folgte.
    Immer noch wichen einige der Männer dem kleinen Kerl aus, wenn sie seiner ansichtig wurden. Sie verbargen ihre Furcht nicht, der Knabe könne ansteckend sein und sie könnten ebenfalls dem Wahnsinn anheimfallen.
    Carl strich dem Jungen kurz über das Haar und folgte seinem Blick. Das Meer hing heute in einem abgewetzten Blau unter einem aschgrauen Himmel. Doch aus dem Krähennest hatte man gemeldet, es seien Vögel gesichtet worden.
    »Bald müssten wir Land erreichen. Wenn Vögel auftauchen, ist irgendwo Land in der Nähe«, sagte Carl, ohne eine Antwort zuerwarten. »Wir haben inzwischen den Pazifik erreicht. Man nennt ihn auch Stillen Ozean, weil das Wasser hier friedlicher, das Wetter konstanter und der Wind träger ist.« Wie so oft in letzter Zeit redete er auf Seth ein, sagte irgendwelche Dinge, von denen er nicht wusste, ob sie ihn überhaupt interessierten. Doch das beharrliche Schweigen des Jungen machte ihn mürbe, und so übertönte er es mit seinen Worten.
    »Land in Sicht.«
    Es war keine Meldung, es war ein Triumphschrei. Carl fühlte, dass sich die Haare auf seinen Armen aufstellten.

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