Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
lief umher oder setzte sich zum Nachbarn. Sobald die Sonne zu hoch stieg, wurden alle Tätigkeiten, die Arbeiten, die Spaziergänge und selbst die Spiele der Kinder, eingestellt. Gemeinsam zog man sich in den Schatten zurück, manche strichen sich das Haar mit Kokosöl, andere dämmerten ein, und erst gestern hatte ein Mann die Nasenflöte gespielt. Gegen Mittag speisten die Tahitianer, wobei hier Männer und Frauen getrennt voneinander aßen. Wenn die Hitze des Tages nachließ, widmeten sie sich wieder ihren Tätigkeiten.
Es schien Seth ein Leben zu sein, das aus wenig Arbeit und jeder Menge Müßiggang bestand. Ein Leben, das er auch führen wollte, ausgefüllt mit Tanz, Musik und Bädern in den Bächen. Und die Tahitianer waren freundlich, nicht so grob wie die Männer an Bord. Aber wie sollte man bei diesem Leben auch übellaunig werden? Am Abend speisten sie noch einmal und nahmen ein Bad, um sich dann zur Ruhe zu begeben.
Es ist ein schönes Leben. Es könnte mir gefallen, und wem würde schon auffallen, wenn ich bei der Abfahrt fehle?
Niemand war ihm geblieben, und selbst Marc war verschwunden. Auch wenn keiner mit ihm darüber sprach, wusste Seth, was er gesehen hatte. Marc war eine Frau, und ihr richtiger Name, das hatte er sich erlauscht, war Mary Linley.
Am ersten Tag hatte Lukas vor ihrer Kajüte gewacht, sie hatte nicht hinaus und niemand hatte zu ihr hinein gedurft. Am Abend, so munkelte man, war sie vor den Kapitän geführt worden, und auch Sir Belham war bei diesem Gespräch dabeigewesen. Und so hatten sie darauf gewettet, ob Kapitän Taylor das Weib in Ketten legen und in den Verschlag sperren oder sie gar der Auspeitschung unterziehen würde. Sie alle hatten ihren Wetteinsatz verloren, denn es war nichts geschehen.
Bis heute nicht.
Die Frau war wieder in ihrer Kajüte verschwunden, und Lukas hatte nicht mehr Wache schieben müssen. Die Männer gingen bald dazu über, die Nägel aus den Wänden zu ziehen und jedes Metallstück, dessen sie habhaft werden konnten, zu entwenden. Warum sollten sie Zeit auf ein Weib mit kurzen Haaren, das auch noch Hosen trug, verschwenden? Dort auf der Insel gab es alles, was sie sich in ihren Fantasien erträumen konnten. Alles war gegen ein kleines Stück Metall, eine Glasperle oder einen Fetzen Leintuch zu ertauschen.
Seth lief den Strand entlang. Hier, am Wasser, hatte er seine Ruhe. Seit der Kapitän verkündet hatte, dass es nur ein kurzer Aufenthalt auf der Insel werden würde, schien es, als hätte er dazu aufgerufen, dass die Männer das Paradies noch schneller auskosten sollten. Das Mannschaftsdeck und auch die Insel waren zu einem einzigen Stöhnen schwitzender und sabbernder Kerle geworden. Er hatte Männer gesehen, deren Ärsche über Mädchen auf- und abwippten, die kaum älter sein konnten als er selbst. Aber alle schienen Vergnügen an diesen Verderbtheiten zu finden, nur ihn ödete es an. Dass überhaupt noch Wachen besetzt und Güter nachgefüllt werden konnten, erstaunte ihn.
Er schoss einen Stein ins Wasser.
Nat, du fehlst mir. Hier könnten wir Vögel abschmeißen, vom Morgen bis zum Abend.
Er beugte sich vor, um sich einen rundgewaschenen Stein, den die Wellen vor- und zurückschoben, zu greifen. Als er sich aufrichtete, sah er zwei Füße, direkt neben sich im Wasser. Er sprang beiseite.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.«
Was macht die denn hier?,
durchfuhr es ihn
. Darf die von Bord? Wer hat die zur Insel gerudert?
Er kniff die Augen zusammen und trat noch einen Schritt zurück. Sie trug die Kleidung, in der er sie kannte: das Hemd, die Weste, die weite Hose.
Das Gesicht,
dachte er,
das ist ein Weibergesicht. Warum hast du das nie gemerkt?
»Bist du mir böse?«
Jetzt konnte er es auch hören. Die Stimme war viel zu hell.Nicht einmal seinen Ohren konnte er mehr trauen. Er drehte sich um und lief davon. Nach wenigen Schritten stolperte er und fiel, mühsam rappelte er sich auf und rannte nass und sandig weiter. Es war ihm egal. Er wollte weg, weit weg, irgendwohin, wo er alleine sein konnte.
***
Jetzt hast du die Grenzen überschritten. Du hast ihnen gesagt, dass du eine Frau bist und dass du wissenschaftlich arbeiten willst.
Der Verschluss ihrer Botanisiertrommel klickte, als Mary ihn schloss.
Jetzt wissen alle, dass du, eine Frau, zeichnest, katalogisierst und sammelst, aber du tust es allein. Niemand spricht mehr mit dir. Der Kapitän, gut, er ist freundlich. Doch was nützt es? Was nützt es, Grenzen zu
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