Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
überschreiten, wenn dahinter niemand mehr ist, der dir begegnet?
Sie schob die Mütze in den Nacken und strich sich über die nasse Stirn. Die Sonne stand im Zenit, und der Schatten des Maulbeerbaumes lud ein, sich einen Moment zu erholen. Zwei Fregattvögel zogen ihre Bögen am zartblauen Himmel.
Sie sank auf den Boden. Vor ihr, in der Bucht, schwankte das Schiff auf den Wellen.
Carl.
Ihre Finger tasteten über das Medaillon, das sie in der Innentasche ihrer Weste trug. Ihre Lippen formten seinen Namen.
Carl.
Seine wohlgesetzten Worte am Ende des Gespräches mit dem Kapitän hatten ihr den Atem genommen. Er hatte um ihren Betrug gewusst, doch er hatte sich nicht dazu geäußert, wie lange schon. Der Kapitän war Gentleman genug gewesen, in ihrer Gegenwart nicht genauer darauf einzugehen. Freundlich lächelnd hatte er sie aufgefordert, die Kapitänskajüte zu verlassen, sich frei zu bewegen und gern die Insel in Augenschein zu nehmen. HätteLukas nicht im Gang gestanden, dann hätte sie sicher ihr Ohr ans Holz der Tür gepresst, um zu erlauschen, was die beiden Männer noch miteinander zu besprechen hatten.
Ob Carls Angebot noch galt, sie mit auf die Insel zu nehmen? Oder würde er sie nun mit der
Sailing Queen
nach Hause schicken? Die Vorstellung ließ sie frösteln. Erst hatte sie den Gedanken gefürchtet, er könnte mit ihr die Zeit auf Tahiti verbringen und in ihr nur den Mann sehen. Doch schlimmer, geradezu schmerzhaft, war der gänzlich neue Gedanke: dass er sie als Frau wahrnahm und sie aus diesem Grund von der Arbeit ausschloss. Dass sie nach Hause reisen musste, vielleicht ohne ein klärendes, zumindest abschließendes Gespräch, und dass sie ihn nie wiedersehen würde.
»Geht es dir gut?«
Ein großgewachsener Tahitianer stand vor ihr, und obwohl er ihre Sprache beherrschte, schrak sie zusammen. Ihr Blick wanderte umher, doch niemand war in der Nähe, ihr im Notfall beizustehen. Sie schaute auf seine Hände und nickte.
»Du bist eine Frau.«
Sie begann zu zittern.
Er öffnete die rechte Hand, und in der rosigen Innenfläche lag eine Zinnfigur. »Du bist eine Frau, dann hast du Kinder. Hier, nimm ihn.«
»Ich habe keine Kinder«, sagte sie leise, und ihr Zittern verstärkte sich.
»Du wirst Kinder bekommen. Ein Freund hat ihn mir geschenkt. Ich möchte ihn dir zur Begrüßung übergeben.«
Der Mann beugte sich vor, öffnete ihre Hand und legte die Zinnfigur hinein. »Es ist ein Reiter«, sagte er und lächelte. Dann verschwand er.
***
Wie eine Traube hingen die Kanus der Tahitianer an der
Sailing Queen
. Das Deck war überfüllt mit Wilden, die nun ihrerseits das Schiff in Augenschein nehmen wollten.
Verdammter Mist, was war das für eine fixe Idee, an Bord zurückzukehren,
fluchte Seth innerlich.
Hier wimmelt es von Fremden, in jeder Ecke des Schiffes wühlt irgendeiner von ihnen herum
. Er mochte die Tahitianer, aber erkannte denn niemand, dass er seine Ruhe wollte, nur für einen Moment? Dass ihm das Gedränge widerwärtig war? Ständig griffen Männer und Frauen in seine Haare, es war unverkennbar, dass der blonde Ton sie zu begeistern schien. Begriffen sie denn nicht, dass er nicht berührt werden wollte? Erneut legte sich eine Hand auf seine Schulter, der feste Griff ließ ihn aufmerken.
»Du kommst jetzt mit«, hörte er Mary Linley sagen, erstaunt über die Strenge in ihrer Stimme.
Wütend riss er seine Schulter aus ihrer Hand, die hernach umso fester zugriff.
Ich hasse dich, ich hasse dich. Ich hasse dich,
dachte er und traute sich nicht, auch nur ein Wort zu sagen.
Die Frau schob Seth in ihre Kajüte und deutete mit einem Kopfnicken an, er solle sich auf die Koje setzen. Die Tasche warf sie achtlos neben ihn und wandte sich der Seekiste zu. Die Scharniere mussten rostig geworden sein, sie knarrten, als die Frau den Deckel öffnete. Erst hob sie mehrere Bücher heraus und stapelte sie neben sich, dann folgte das Schreibzeug.
Seth starrte auf die offene Tasche. Die üblichen Utensilien, die er inzwischen einwandfrei benennen konnte: Glasphiolen, Botanisiertrommel, Skizzenblock, Messer …
Was war das?
Auf dem Boden der Tasche lag etwas Silbernes. Etwas Glänzendes. Schnell schaute er zu Mary Linley hinüber. Sie war dabei, die Bücher wieder in die Kiste zu räumen.
Langsam fuhr seine Hand über den Stoff, an der Botanisiertrommel vorbei, und packte zu. Obwohl das Ding klein war, fühlte es sich für seine Größe schwer an. Kurz öffnete er die Finger: eineZinnfigur. Ein
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