Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
Reiter auf einem Pferd. Noch einmal schaute er zu ihr hinüber. Unauffällig verschwand der Reiter in seinem Hosenaufschlag.
Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich,
dachte er noch einmal und faltete zufrieden die Hände im Schoß.
»Entschuldige, dass ich eben derart grob zu dir war«, sagte die Frau und wandte sich ihm wieder zu.
»Macht nichts«, sagte Seth und winkte ab. Großzügig fand er sich und geschickt. Sehr geschickt.
»Mir war es wichtig, noch einmal kurz mit dir zu sprechen. Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Mein Name ist Mary. Mary Linley.«
Das weiß doch inzwischen jeder an Bord. Kann ich jetzt gehen?
Er sah auf seine Hände, die Nägel musste er sich schneiden. Sie waren lang geworden und sahen weibisch aus.
Die Frau wartete einen Moment, erst dann fuhr sie fort: »Sicher, ich kann nichts mehr gutmachen, nichts ungeschehen machen, aber ich möchte dir diesen Brief geben. Bitte lies ihn irgendwann, wenn du ein wenig Zeit hast, ja?«
Seth hatte keine Lust, sich weiteres Gesäusel anzuhören, sprang von der Koje und fasste nach dem Brief. »In Ordnung, mache ich«, rief er und verließ eiligst die Kajüte.
Vor der Tür blieb er stehen und holte den Reiter aus dem Hosenumschlag hervor. Ein Grinsen zog sich über sein Gesicht.
Tahiti, 2. Juni 1786
Wir haben ihnen wieder Schweine überlassen. Dieses Mal haben wir im Austausch jedoch nicht einen Nagel pro Schwein erhalten, wir haben ihnen zehn Schweine gegeben, und dafür haben sie uns eines ihrer Beiboote nachgebaut.
Nun sind sie weg. Das Schiff hat uns längst verlassen. Am Abend, bevor die Fremden fuhren, haben sie noch ein Lichterfest mit uns gefeiert. Sie haben wieder Blitze und Sterne hervorgebracht, heulende Blitze und Sterne, die am Himmel aufleuchteten und dann zerfielen. Allesamt, ob Kind, ob König, haben wir am Strand gestanden und uns daran erfreut.
Am Morgen darauf haben wir Abschied genommen, wir haben am Strand gestanden und zugesehen, wie das Schiff am Horizont verschwand. Die weißen Gesichter waren noch in weiter Entfernung auszumachen
.
Carl und Mary sind nicht mit ihnen aufgebrochen, sie sind geblieben, um zu sammeln. Alles, was die Insel hergibt: Pflanzen, Fische, Gestein, kleines Getier. Sie sagen, auf diesem Weg lernen sie die Insel kennen.
Owahiri zuckte die Schultern. Ein Spaziergang würde ausreichen, befand er, um alles über die Insel zu erfahren,
doch ich will ihnen nicht in ihre Überlegungen hineinreden.
Er erhob sich aus der Hocke und lief den Strand entlang, wobei er darauf achtete, Abstand zu halten. Er wollte die beiden nicht stören.
Mary und Carl.
Carl und Mary.
Einen schönen Klang haben ihre Namen, ob ich mein nächstes Kind nach ihnen benennen soll?
Schweigend liefen sie nebeneinander her, schwer beladen mit ihrem Arbeitsgepäck. Viele Männer und Frauen der Insel hatten ihre Hilfe angeboten, sie bei ihrer Suche zu unterstützen, was auch immer sie gerade begehrten. Doch jeden Tag zogen sie alleine los, und jeden Tag brachten sie Sachen aus den Wäldern mit, die Owahiri zum Lachen reizten: Blüten, Schmetterlinge, Käfer, Farne, und am Meer angelten sie Fische. Sie interessierten sich für diese Dinge, daran hatte er sich gewöhnt. Dass sie aber derart viel Zeit dafür hergaben, wo selbst die Kinder der Insel das Gesuchte in kürzester Zeit hätten besorgen können, daran konnte er sich nicht gewöhnen. Doch er hatte es aufgegeben, ihnen das erklären zu wollen.
Am Strand hatten sie sich eine Hütte gebaut, und sobald sie diese nach einer Wanderung erreichten, wiederholte sich der Ablauf stets und unerschütterlich. Mary nahm einen der kleinen Stöcke mit Haaren an seiner Spitze und begann zu malen. So nannte sie es: malen. Owahiri hatte ihr Muscheln angeboten, die man auf der Insel zum Tätowieren benutzte, aber sie hatte den Kopf geschüttelt.
Und während Mary malte, setzte Carl sich oft in den Schatten eines Baumes und malte ebenfalls. Doch er widmete sich nicht den Pflanzen und Tieren, meist waren es Zeichen, die er malte. Zeichen, um sich Dinge zu merken.
Omai hatte ihm davon erzählt: Es gab unterschiedliche schwarze Zeichen, die von den Menschen in England aneinandergereiht wurden. Vielleicht waren sie vergesslich, vielleicht konnten sie in ihren eckigen Köpfen die Erinnerung nicht so gut festhalten. Er überlegte, aber er kannte nichts Vergleichbares. Hier gab es keine Zeichen, hier konnte man die Dinge im Kopf behalten. Oder man erzählte sie weiter, dann wussten
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