Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
Navy verantworten müssen.«
Landon seufzte. Er hatte nicht einmal eine Vorstellung, welcher Taten man sie bezichtigen würde. Einen Anwalt konnte er empfehlen, aber das hatte Henriette Fincher sicher schon bedacht.
Sein Blick fiel auf den Jungen, der mit seinen dürren, zum Körper unverhältnismäßig langen Beinen zur Tür schlich und sie behutsam schloss. Landon wandte seinen Blick ab, stutzte und sah noch einmal zur Tür. Sie war wieder einen Spalt geöffnet worden und blieb angelehnt.
Der Kleine lauscht,
stellte er erstaunt fest und konzentrierte sich auf William. »Auch wenn sie wieder in der Stadt ist«, sagte er, »können wir nicht viel für sie tun. Richtet den Damen bitte aus, dass ich im Zweifelsfall einen guten Anwalt empfehlen kann.«
William erhob sich und zog aus seiner Brusttasche einen Umschlag. »Mrs. Fincher bat mich, dies bei Euch abzugeben. Sie möchte Euch in der kommenden Woche zum Dinner bitten. Zu Marys Begrüßung.«
Landon starrte auf den Umschlag und hob die Augenbrauen in die Höhe. »Verzeiht die Indiskretion. Aber wie kommt es zu diesem Sinneswandel? Letzthin schien sie mir noch recht ungehalten über das Verhalten ihrer Nichte zu sein.«
William wiegte den Kopf. »Verstehe einer die Frauen. Vielleicht bleibt ihr nicht mehr, als die Flucht nach vorne anzutreten?« Spitzbübisch lächelte er. »Verzeiht den Scherz. Wenn Ihr ernsthaft nach meiner Einschätzung fragt, würde ich sagen, sie hat ihr gefehlt. Es war einfach zu still im Haus.«
Plymouth, 28. Mai 1788
Mrs. Finchers Haus war hübsch anzusehen. Roter Backstein, Fenster mit Butzenrahmen, die in Weiß erstrahlten, und eine gelbe Eingangstür, über der sich ein gläserner Fensterbogen wölbte. So ein Haus hatte sich seine Mutter zeitlebens gewünscht. Seth entdeckte, dass die Kutsche bereits angespannt war. Er verfiel in einen Laufschritt, als sich die Tür öffnete. Abrupt bremste er ab und blieb stehen. Er spürte, dass er die Augen aufriss und dass der Mund ihm offen stand. In Tahiti hatte er sie das letzte Mal gesehen, mit kurzem Haar, in Hemd und Hose. Jetzt trug sie ein Schultertuch über einem hellen Kleid. Eine Haube bedeckte ihren Kopf, unter der seitlich dunkle Locken hervorsprangen. So fremd sie ihm erschien, sie war es. Er setzte an, wollte sie rufen, bevor sie den Wagen bestieg. Doch immer noch wollte ihr Name ihm so schwer über die Lippen.
»Mary«, rief er, »Mary, warte!« Doch seine Stimme sackte weg. Er sog die Luft ein und brüllte mit aller Kraft: »Marc!«
Alle blickten zu ihm herüber. Der alte Mann, der am Tag zuvor im Kontor aufgetaucht war, und die Frau, die in der Tür auf die Abfahrt wartete. Sie musste Mrs. Fincher sein. Und Mary. Sie wirbelte um ihre eigene Achse. Ungläubig schaute sie ihn an, einen Wimpernschlag lang, bis sie einen Schrei ausstieß und ihm entgegenlief. Die Arme geöffnet, kam sie auf ihn zu.
Seth schloss die Augen und ertrug ihre Umarmung. Dannmachte er sich frei und trat einen Schritt zurück. Sie war viel blasser, als er sie in Erinnerung hatte, und sie war geschminkt. Nur ein wenig, aber sie hatte Farbe auf den Augenlidern, den Wangen und den Lippen. Seth runzelte die Stirn, er hasste Schminke noch immer. Aber Mary war trotzdem hübsch anzusehen, trotz der Schminke und des Grübchens im Kinn. Er konnte sich kaum noch vorstellen, dass er an ihrer Seite um die halbe Welt gereist war. Irgendwie erschien sie ihm verkleidet und fremd.
»Was machst du hier? Arbeitest du bei Landon? Geht es dir gut? Wie war eure Heimreise? Seit wann bist du wieder in England?« Ihre Fragen prasselten auf ihn ein, und erstaunt bemerkte er, dass er ihre ungeteilte Aufmerksamkeit ein klein wenig genoss. Immer noch lagen ihre Hände auf seinen Armen. Sie schien ihn nicht loslassen zu wollen und musterte ihn eingehend. »Himmel, was bist du gewachsen, du bist fast so groß wie ich. Ein stattlicher Mann wirst du werden.«
Seth wurde rot und trat einen Schritt zurück.
Jetzt reicht es,
dachte er und strich seine Jacke glatt
.
Wenn er etwas mehr hasste als Schminke, dann waren es Komplimente. Als er den Kopf hob, sah er, dass der alte Mann auf sie beide zukam. Die Zeit wurde knapp, Seth wusste, er musste sich beeilen.
Er zog den zinnernen Reiter aus seiner Tasche. »Ich habe ihn dir … Ich habe ihn dir geklaut. Das tut mir so leid, aber er hat mir viel Glück gebracht, und jetzt brauchst du ihn.«
Mary starrte auf die Zinnfigur und schloss die Finger darum. Dann blickte sie
Weitere Kostenlose Bücher