Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
Stolz geblieben? Selbst der Versuch, sich die Detonationen der Salutschüsse, das leichte Vibrieren des Schiffes in Erinnerung zu rufen, bewirkte nichts. In ihr regte sich nichts. Durch das Bullauge konnte sie den Leuchtturm erkennen.
Musik ertönte. Unzählige Menschen warteten im Hafen, winkten und suchten mit ihren Blicken das Deck nach ihren Liebsten ab.
Die Kette wurde herabgelassen, die Musik schepperte, schiefund laut, ein liebevoller Gruß, der das Herz erwärmte. Spitze Schreie von Frauen und Kindern ertönten, Männerstimmen antworteten.
Wie soll ich den Menschen dort draußen gegenübertreten? Wenn sie schon vor meiner Abreise nicht gewusst haben, was sie von einer Frau wie mir halten sollen, wie wird es ihnen dann jetzt ergehen? Wie soll ich Moral, Anstand und Etikette noch ernst nehmen? Sieht denn niemand, womit man sich hier belastet? Mit was für Unsinnigkeiten das Leben schwer gemacht wird?
Mary strich das Kleid zurecht und legte den Umhang um. Sie konnte nicht ewig in der Kajüte ausharren.
Kapitän Fairbanks kam ihr entgegengelaufen, als sie das Deck betrat. »Ich suche Euch schon überall«, rief er. »Darf ich bitten?« Er hielt ihr den Arm entgegen und führte sie zur Laufplanke, die mit jedem Schritt auf und ab federte. Sie atmete tief durch, reckte den Rücken und hob das Kinn. Kurz darauf berührte ihr Fuß festen Boden.
Englands Boden.
Männer, die sie nie zuvor gesehen hatte, prächtig herausgeputzt, begrüßten den Kapitän, darunter auch Männer in Navy-Uniformen. Marys Puls schlug so derb und laut, dass sie ihn in ihren Ohren spürte und dass keine der Begrüßungen sie erreichte. Sie knickste, sie lächelte, sie nickte. Das Einzige, was sie immer wieder verstand, waren Kapitän Fairbanks’ Worte: »Sir, das ist Mary Linley, Ihr hörtet sicherlich bereits von ihr.«
Das Begrüßungskomitee ist abgeschritten. Sie haben mich gehen lassen. Erst einmal. Ich habe etwas Zeit gewonnen,
dachte sie wenig später und spürte das Zittern ihrer Knie.
Der Kapitän schaute sie an. »Danke«, flüsterte sie, dann drehte er sich um und verschwand, um einen der Honoratioren der Stadt zu begrüßen.
Sie stand in der Menge, die Menschen drängten an ihr vorbei, und niemand nahm Notiz von ihr. Vielleicht hielt man sie für dieEhefrau eines Offiziers, die man in Falmouth an Bord genommen und das Stück hatte mitreisen lassen.
Ein Mann hob einen kleinen Jungen auf seine Schultern, eine Frau weinte, lachte und winkte. Kinder drängten sich vorbei, um in den ersten Reihen bessere Sicht zu erlangen.
Müde war sie. Der Puls hatte das Rasen, die Beine das Zittern aufgegeben, und zurückgeblieben war nichts als bleierne Müdigkeit. Wieder ließ sie ihren Blick schweifen.
Niemand ist gekommen, um mich zu begrüßen. Kein Wunder, woher sollen sie wissen, dass ich auf diesem Schiff bin? Dass ich lebe? Ich bin gestorben für sie, irgendwann in den letzten Jahren bin ich für sie gestorben. Wo soll ich mich hinwenden?
Henriette.
Mehr bleibt mir nicht, auch wenn sie mir sicherlich die Tür vor der Nase zuschlägt
. Den immer noch in den Hafen eilenden Menschen entgegen, schob sich Mary durch das Gedränge.
Es waren die Augen, die sie zuerst entdeckte. Die dunklen Augen, mit dem warmen, alles durchdringenden Blick. Kurz sahen sie einander an, dann schoben sich zwei eingehakte Frauen vor ihn und nahmen ihr die Sicht.
William. Er war es.
Mary drängte zur Seite, stellte sich auf die Zehenspitzen und sah den winkenden Arm. Er hatte sie erkannt.
Den Rock angehoben, lief sie auf ihn zu. Die Falten hatten sich tief in seine Haut gegraben, das Haar war schütter geworden, und seine gesamte Erscheinung wirkte noch dünner, fast hager. Aber er war es. William Middleton. Der warme Ton seiner Stimme umarmte sie: »Willkommen, Miss Linley. Darf ich Euch bitten, mir zu folgen.«
»William. Du bist hier. Wie geht es dir?« Sie blieb vor ihm stehen, lachte und legte ihre Hände um seine und hielt sie fest. »Wo fahren wir hin?«
Das letzte Mal, dass sie Henriettes Haus besucht hatte, war zur Beisetzung des Onkels gewesen. Viel verändert hatte sich seitdem nicht. Der Eingangsbereich hatte etwas Rustikales, etwas Warmes, Gemütliches, so wie es der Onkel in seiner Bodenständigkeit gern gemocht hatte.
William nahm ihr den Umhang ab, und sein Blick blieb an ihrem Kleid hängen.
»Das ist selbst gefertigt. Etwas anderes hatte ich nicht dabei.«
»Ich weiß«, sagte William, und Mary spürte, wie sich das
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