Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
ungezügelten Leidenschaften der Wilden im Pazifik, entsetzliche Details aus der Cannibal Cove der Maori, die Menschenfleisch verspeisten, oder kaum Fassbares über Kapitän Cooks grausamen Tod auf Hawaii. Kein Anwohner Plymouths wollte sich die Ankunft entgehen lassen, und Landon konnte es niemandem verdenken.
Auch in sein Handelskontor war ein Junge gestürzt, laut hatte er die Neuigkeit ausgerufen, um sofort weiterzueilen. Schweigend hatten seine Angestellten zu ihm, dem Direktor, geschaut, hatten auf ein Wort gehofft, auf eine Schließung des Kontors für einige Stunden. Die Blicke hatte er kaum ertragen, hatte die Korrespondenz ergriffen, und ein jeder hatte die Geste richtig gedeutet. Die Köpfe hatten sich gesenkt, und die Arbeit war wieder aufgenommen worden.
Er hatte sich an seinen Schreibtisch zurückgezogen und doch immer wieder den Blick aus dem Fenster geworfen. Aufs Wasser, auf den Hafen. Er hatte das Schiff gesehen, die Briefe festgehalten und sich nicht gerührt. Lange hatte er überlegt, warum er nicht imstande war, die wenigen Schritte hinüberzulaufen. Wenige Schritte, die es bedurft hätte, um sich zu überzeugen, ob Mary Linley auf der
Challenge
mitgereist und wohlbehalten angekommen war. Es war keine Wut in ihm, aber auch das Gefühl, das damals so drängend in ihm gebrannt hatte, war erloschen.
Der Schmerz war verschwunden und mit ihm die Leidenschaft. Er war sich nicht sicher, was zurückgeblieben war. Freundschaft? Vorwürfe?
Warum sollte er riskieren, gut verheilte Wunden wieder aufzureißen?
Er konnte nicht sagen, wie viele Stunden er über den Büchern der Linleys verbracht hatte, wie sehr ihn die Materie begeisterte. Dieser Aspekt erschien ihm unstrittig, hier wusste er sehr wohl, dass er Mary jeden erdenklichen Respekt zollte. Doch der Hafen, das Gewühl, der Lärm und die freudigen Begrüßungen erschienen ihm nicht als der richtige Rahmen, ihr zu sagen, dass er ihren Scharfsinn und ihr Wissen bewunderte.
Vielleicht hatte ihn auch die Angst abgehalten, dass sie mit einem Mann zurückkam, dass sie ihn nicht erkannte oder dass sie vor aller Augen abgeführt wurde. Es gab zu viele Ängste in seiner Brust, die Unruhe wäre unerträglich gewesen. Das Wissen, dass William Middleton ihn aufsuchen und berichten würde, hatte seinen Teil dazu beigetragen, im Kontor zu verharren und sich nicht zu rühren.
Und da stand er nun, der alte Mann. Direkt vor ihm und wartete darauf, seinen Bericht beginnen zu können.
Landon nickte ihm zu.
»Mr. Reed, Miss Linley geht es gut, sie lässt Euch herzlichste Grüße ausrichten …«
Leise öffnete sich die Tür. Seth kam herein, mit vorgestreckten Armen trug er ein Tablett, auf dem zwei Tassen Tee standen.
William sah kurz auf und fuhr fort. »Sie ist bei ihrer Tante untergebracht.«
Die erste Tasse wurde auf dem Beistelltisch neben William abgestellt, und der silberne Löffel klapperte auf der Untertasse.
Landon lehnte sich in seinem Sessel zurück und versuchte, den Abstand zu William zu vergrößern. Aufmerksam musterte er ihn.
Dieser alte Mann und ich, wir haben im Laufe der Jahre ein Verhältnis aufgebaut, das merkwürdig ist. Warum lasse ich mich immer wieder auf ihn ein?
Seth trat hinter den Schreibtisch und stellte die Tasse auf den Tisch. Die Köchin hatte Kekse gebacken und auf jeden Tellerrand einen gelegt. Landon griff danach, biss zu und ließ William nicht aus den Augen. Der Mann saß aufrecht und rang die Hände.
Ihm geht jede Boshaftigkeit ab. Er handelt nach seinem Gefühl und vergisst dabei die Etikette. Ich könnte boshaft sein und denken, er vergisst sie absichtlich. Vielleicht ist der Anstand ihm schlicht egal, wenn es um Mary geht. Ob er eigene Kinder hat? Erwähnt hat er nie welche.
William räusperte sich. »Soweit die guten Nachrichten. Die schlechte Nachricht hat uns jedoch gleich heute am frühen Morgen erreicht: Miss Linley ist aufgefordert worden, vor der Royal Society zu erscheinen.«
Der Junge stand immer noch neben seinem Stuhl. Landon nickte ihm zu und beugte sich zur Schreibtischplatte vor. »Wann?«
»In drei Tagen. Man will ihr genug Zeit für die Anreise lassen. Ihr wisst, was das bedeutet?«
Eine Ahnung durchlief Landon, doch er schüttelte den Kopf. Seth rührte sich noch immer nicht von der Stelle, vielmehr starrte er William unentwegt an.
»Wenn die Royal Society ihre Arbeit nicht anerkennt«, William griff nach der Teetasse und umschloss sie mit den Händen, »wird sie sich vor der Royal
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