Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
Vom Netzwerk:
den Flur und lief zum Schlafzimmer des Vaters hinüber. Es war unberührt. Ob Henriette Skrupel hatte, es aufzulösen?
    Langsam öffnete sie die in den Angeln knarrenden Türen des alten Schrankes und sah die Wäsche durch. Als sie nach dem blauen Oberhemd griff, zögerte sie und roch daran. Die Zeit hatte den frischen, seifigen Geruch des Vaters verschwinden lassen. Mary streifte das Hemd über den Kopf und kontrollierte den Anblick im Spiegel. Der Kragen betonte den Hals und damit das Fehlen eines Adamsapfels. Eines der Halstücher ließ den Mangel verschwinden. Hernach streifte sie die grobe Hose über, krempelte die Hosenbeine um, zurrte den Gürtel fest, stopfte Taschentücher in die Schuhe und schlüpfte hinein. Diese Schuhe hatte ihr Vater stets getragen, wenn er zu seinen Exkursionen ins Umland aufgebrochen war.
Nun werde ich darin aufbrechen,
dachte sie.
Zu einer weitaus größeren Exkursion.
    Was benötigte sie noch? Den Seesack. Die leichte Garnitur für die Südsee. Wollenes Zeug für die kalten Regionen und das Regenzeug gegen die Stürme. Selbst einen Südwester aus ölgetränkter Leinwand mit breitem Nackenschirm und eine Mütze entdeckte sie. Hastig drückte sie alles in den leinenen Seesack.
    In ihrem Zimmer schob sie die Teakschatulle mit dem Schmetterling sowie das bisher unter dem Bett versteckte Studienbuch zwischen die Wäsche. Zum Schluss steckte sie ein ledernes Beutelchen mit Münzen in die Hosentasche, befestigte die Mappe mit ihren Zeichnungen am Riemen des Leinensacks und griff sich Jacke und Mütze.
    Noch einmal sah sie sich um. Die Haare auf dem Boden, die Schüssel mit dem Schlamm, der zerwühlte Schrank, das Laken und das zerschnittene Kleid. Erschrocken ließ sie den Leinenbeutel sinken.
Ich kann noch nicht gehen, ich muss meine Spuren beseitigen,
dachte sie und trat an den Schrank, um die Kleidungsstücke wieder an ihren Platz zu sortieren. Dann ergriff sie Kleid und Laken, wand sie zu einem Stoffballen und ging vor dem Bett auf die Knie.
    Selbst wenn ich alles in die hinterste Ecke schiebe, wird William es finden. Das geht nicht.
Sie umklammerte das Knäuel.
Er wird zu
Tode erschrecken, wenn er das zerrissene Kleid entdeckt. Das kann ich ihm nicht antun. Wie seinen Augapfel hat er mich behütet. Vom ersten Tag an. Vom Tag meiner Geburt an.
    Nein! Nicht daran denken! Sie durfte jetzt nicht daran denken! Dass er es gewesen war, der in der Küche das heiße Wasser über der Feuerstelle zum Kochen gebracht und in Schüsseln gefüllt hatte. Alles hatte er ihr beschrieben. Seine Freude, dass es Nachwuchs geben würde. Wie er sich die Finger verbrüht hatte, als er das Wasser in eine Schüssel füllte. Dass er sich jeden Fluch verkniffen hatte, weil er nicht riskieren wollte, dass das Kind als Erstes unflätige Worte zu hören bekam.
    Mary legte den Stoffballen aufs Bett. Mit steifen Beinen erhob sie sich und nahm die Schüssel und die Wasserkaraffe vom Toilettentischchen. Sie schluckte, als sie sich William über der Feuerstelle vorstellte. Leise betrat sie den Garten und kippte den Schlamm in eines der Beete. Spülte die Schüssel mit dem Rest Wasser aus und rieb mit ihrem Hemdsärmel die Schmutzränder weg.
    Sie sah zum Haus, doch alles war dunkel. »Eine der dunkelsten Nächte meines Lebens«, hatte William geflüstert, »der letztlich doch ein heller Stern entsprang.« Sein Blick war glasig geworden, und Mary hatte sich gewünscht, die Bilder zu sehen, die in seinem Kopf Form annahmen. Vergeblich hatte er damals nach der Köchin gesucht. Also hatte er die Zähne zusammengebissen und die Schüssel zum Schlafzimmer gebracht. Die Hebamme nahm sie ihm ab und schob die Tür mit dem Fuß zu. Er hörte das Wehklagen ihrer Mutter und die Hebamme, die forderte, sie solle pressen, pressen, pressen. Als endlich der Schrei ertönte, ganz dünn und brüchig, wusste er, dass sie geboren worden war. Er hatte es nicht gesagt, aber Mary hatte seinem Gesicht angesehen, dass ihn die Erinnerung an diesen kurzen Moment glücklich machte.
    Doch mit dem Gedanken an die Hebamme war der Schatten auf sein Gesicht zurückgekehrt. Sie riss die Tür auf und rief durch den Flur, dass sie frische Tücher brauche. Selbst auf die Entfernungkonnte er erkennen, dass Hände und Rock blutverschmiert waren. Er hatte den Stoffberg ins Zimmer gereicht, und wieder hatte er Blut gesehen. Überall. Auf dem Laken und in den Tüchern am Boden.
    Mary betrat ihr Zimmer und stellte die Schüssel samt der Karaffe an ihren Platz

Weitere Kostenlose Bücher