Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
hinteren Teil des Decks konnte sie einen älteren Matrosen und Bartholomäus Kellington ausmachen.
»Ihr müsst mir helfen«, sagte sie, und ihre Stimme klang hell und nervös. »Ich soll mich beim Backsvorsteher Sohnrey melden. Gehe ich recht in der Annahme«, sie wandte sich dem Älteren zu, »dass Ihr das seid?«
»Ja, das bin ich. Und wer bist du?«
»Marc Middleton ist mein Name, und ich bin der Zeichner von Sir Carl Belham. Der Bootsmann verkennt meine Position und verweist mich an Euch. Ihr sollt einen Platz für mich finden, bis die Gentlemen an Bord sind.«
Bartholomäus schien amüsiert. »Du warst noch nie an Bord eines Schiffes, oder?«, fragte er.
Was verriet sie? Noch fester drückte sie den Leinensack an ihre Brust und grub die verräterisch schmalen Finger in die Falten des Stoffs.
»Erste Regel: Red nicht so geschwollen im Mannschaftsdeck daher!«, dröhnte Sohnreys Stimme in die Stille hinein.
Fast zuckte sie zusammen vor dem scharfen Ton, mit dem er sie ansprach. Mary schluckte. Wie töricht sie war: Ihre Ausdrucksweise hatte für das Schweigen der Männer gesorgt. Erleichtert lockerte sie den Griff, mit dem sie den Leinensack hielt.
»Ich muss dich warnen. Spar dir dein feines Mundwerk auf, bis du auf das Achterdeck kommst. Das verträgt hier keiner. Zudeiner Frage: Unser Quartier ist beengt. Hier gibt es keinen Platz mehr.«
Bartholomäus fiel ihm ins Wort: »Sohnrey, komm! Wir finden eine Lösung, dessen bin ich sicher. Den Ärger, den Kyle Bennetter zu erwarten hat, ist es wert.« Er grinste Mary an.
Sie sah seine dunkelblauen Augen, die von schwarzen Wimpern umrahmt waren. Außergewöhnlich langen Wimpern.
Er sieht sympathisch aus,
stellte sie fest.
Wenigstens ein Mensch, vor dem ich mich nicht ängstigen muss.
»Vor Bennetter musst du dich in Acht nehmen«, sagte Bartholomäus, und Mary befürchtete, sie wäre ein offenes Buch, in dem er mit Leichtigkeit ihre Gedanken lesen konnte. »Er ist so etwas wie die rechte Hand des Kapitäns. Zu Beginn jeder Fahrt führt er sich auf wie ein Berserker, zweimal habe ich das jetzt erlebt. Manchmal wird er ruhiger, wenn er merkt, dass die Dinge laufen, aber wenn er jemanden auf dem Kieker hat, dann …«
»Genug jetzt!«
Bartholomäus schwieg sofort.
»Kennst du dich mit Seemannstätigkeiten aus?«, fragte Sohnrey.
Mary registrierte den Überdruss in seiner Stimme. Sie musste lügen, ihr blieb keine Wahl.
Doch der Matrose schien ihr Zögern bemerkt zu haben, denn bevor sie auch nur den Mund öffnen konnte, beantwortete er sich seine Frage selbst: »Das habe ich mir gedacht. Einen Mann deines Schlages können wir hier nicht gebrauchen.«
»Aber wo soll ich hin?« Sie hatte die Reise noch nicht einmal angetreten, und alles schien sich gegen sie verschworen zu haben.
»Ich kann deine Probleme nicht lösen.« Sohnreys Blick blieb ungerührt.
»Aber ich könnte vielleicht Eure Hängematte nutzen, wenn Ihr auf Wache seid«, wagte sie einen verzweifelten Vorstoß.
Doch dieses Mal schüttelte selbst Bartholomäus den Kopf. »Das geht nicht. Die Wachmannschaften schlafen im Schichtsystem. Es gibt die Backbord- und die Steuerbordwache. Alle vier Stunden wechseln sie sich ab und …«
Sohnreys drohender Blick ließ ihn erneut stocken. »Lass uns später darüber sprechen«, sagte er nur noch, und für einen Moment schwiegen sie alle. Plötzlich erhellte sich Bartholomäus’ Miene: »Eine Möglichkeit gäbe es allerdings noch …«
Smutje Henry drehte sich um und wies mit den Armen durch das Ladedeck. Seine Augen leuchteten vor Stolz. Mary hatte mehrfach gehört, dass die Navy Krüppel für die Kombüse einstellte und sie mit lächerlichem Salär bezahlte. Doch sie konnte bei diesem Mann kein Gebrechen erkennen. Flink war er mit ihr durch die Gänge bis hinunter in das Ladedeck geeilt. Das Wasser schlug mit sanftem Murmeln gegen die Bordwände und verriet, dass sie nunmehr unter dem Wasserspiegel sein mussten. Das Schiff war kalfatert worden, in der feuchten Kühle hing noch der Geruch teergetränkten Wergs.
»Also, pass auf«, sagte Henry, »du sorgst dich um die Viecher, die im Zwischendeck stehen. Es ist ein Kreuz mit ihnen. Stellt man sie aufs Wetterdeck, fegt sie der nächste Sturm davon. Oder sie sterben am Zug und ewig nassen Fell. Bringst du sie unter Deck, hört man überall ihr Gebrüll. Vor allem nachts. Wir brauchen aber das Frischfleisch. Drei Kühe, zwanzig Schafe, mehrere Dutzend Hühner, eine Ziege, fünf Schweine
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