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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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Nadeln.
Hoffentlich wird Dan nie eine davon in die Finger bekommen. Sicher wird er sie mir in den Oberschenkel rammen oder in den Arm. Wo ist Dan überhaupt?
Zufrieden bemerkte er, dass er ihn an Deck nicht entdecken konnte.
    Die Kartenrunde hatte sich aufgelöst, und einige der Spieler kamen herüber. Auch Nat war unter ihnen. Er blieb neben Seth stehen und kniff ihn in den Arm. Genau an der Stelle, an der er ihn zuvor mit dem Ellbogen getroffen hatte. »Na, Kleiner«, sagte er grinsend.
    Seths Bauch fühlte sich warm an, als sich Nat neben ihn setzte, die Beine kreuzte und der Musik lauschte.
Eigentlich ist es ja ganz schön hier, wenn Vater zu seinem Essen ist,
stellte er fest.
Hoffentlich bleibt er noch ein Weilchen weg.
***
     
    Vierundzwanzig Schritte in die eine Richtung, vierundzwanzig Schritte in die andere. Vom Bug bis zum Heck und zurück. Mary lief das Deck auf und ab, immer wieder mit der Insel liebäugelnd, die mit ihrer Schönheit lockte und rief. Wie ein Tuch, das großzügig um den Hafen geworfen worden war, lag Funchal vor ihnen. Die Ausläufer der Stadt zogen sich bis in die Berge hinein und ließen an ein Amphitheater denken. Die Hänge schienen sich in der Mitte der Insel zu einem einzigen Berg zusammenzudrängen. Ein Berg, der sich weithin sichtbar aus dem Meer erhob, greifbar nahe, und den sie nicht betreten durften. Weiß schimmerten die ein- bis zweistöckigen Häuser in der flirrenden Mittagssonne.
    Rechter Hand lag vertäut die Marinefregatte
Rose
, die die
Sailing Queen
bei ihrer Ankunft im Hafen mit Salutschüssen begrüßt hatte. Nun schien das Schiff verwaist, sanft schwankte es auf den Wellen. Hier und da konnte sie vereinzelte Seesoldaten ausmachen, die als Wachen zurückgelassen worden waren.
    Im Hafen dagegen herrschte geschäftiges Treiben. Hier mischten sich die verschiedensten Hautfarben, so wie sie der Vater Mary immer beschrieben, die sie aber noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte: erdschwarz, olivbraun, sand- und elfenbeinfarben. Stundenlang hatte sie an der Reling gestanden und sich nicht sattsehen, sich am Stimmgewirr nicht satthören können. Es war ihr unmöglich gewesen, zu unterscheiden, wie viele Sprachen hier gesprochen wurden, wie viele Menschen aus aller Herren Länder an diesem arkadischen Ort aufeinandertrafen.
    Die Männer kleideten sich überwiegend mit Hosen aus Leinenstoffen und groben Hemden, die Köpfe bedeckten sie mit großen Hüten. Die Frauen ließen ihr Haar unbedeckt, manche von ihnen hatten es zu einem Knoten zusammengesteckt. Die langen Röcke und kurzen, engen Leibchen kombinierten sie mit kleinen Mänteln und waren hübsch darin anzusehen. Manche Frauen waren groß, hatten lange, ebenmäßige Gesichter und dunkles Haar, bei anderen war der Wuchs kleiner, das Haar gekraust.
    »Die Ilhas Desertas. Schön, oder?« Bartholomäus schaute auf ihre Beine, passte sich ihren Schritten an und lief mit ihr zum Bug vor.
    Mary nickte. »Ja, aber warum man diese Inselgruppe die Wüsteninseln nennt, verstehe ich nicht. Sie sind so grün.«
    »Das versteht keiner.« Bartholomäus lachte. »Die Männer deuten den Namen auf ihre Weise und nennen die Inselgruppe schlicht die Deserteure. Die erstbeste Gelegenheit und vielleicht auch die letztbeste, sich abzusetzen, wenn man festgestellt hat, dass man für die Seefahrt nicht taugt.«
    »Bekommt die Mannschaft deshalb keinen Landgang?«
    Bartholomäus zuckte die Schultern.
    »Meinst du, wir werden noch an Land gelassen?«
    »Ich denke, nicht. Taylor kennt seine Jungs, und da er keine Zeit damit verlieren will, trunkene, liebestolle oder melancholische Männer, die sich nach zu Hause sehnen, auf der Insel suchen zu lassen, gibt’s wahrscheinlich keinen Ausgang mehr.«
    Mary musterte die Mannschaft. Die Männer der Freiwache vertrieben sich die Zeit sinnlos an Deck. Hingen immer wieder an der Reling und beobachteten die Insel oder liefen unruhig auf und ab. Einige saßen in kleineren Gruppen beieinander und schwiegen. An der Segelmacherbank begann einer, den Dudelsack zu spielen. Ein klagendes Lied, das die Wehmut verstärkte.
Alle Anekdoten unserer nichtssagenden Leben sind in den letzten Tagen erzählt worden. Dort draußen liegt neuer Gesprächsstoff. Großartige Eindrücke, andere Gerüche, fremde Menschen, unbekannte Sitten und Bräuche. Wie viele von den Männern haben wie ich das erste Mal die Heimat verlassen? Wie viele von ihnen sehen das erste Mal ein fremdes Land vor sich und dürfen es nicht

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