Vom Baum Der Erkenntniss
In unsern kritischen Aburtheilungen hat man zu sehr die natürlichen Unterscheidungen von Genie und Talent unter einander geworfen, wie noch viele Beispiele beweisen würden. Will man Genie vorzugsweise einen prädestinirten, gleichsam von der Natur bestimmten Epochemacher, also einen wohlthätigen Genius im Leben der Menschen nennen, dann wäre gegen diesen Ausdruck nichts einzuwenden. Nur muß man dann auch zugleich hinzufügen, daß es doch immer erst die Zeit gewesen ist, die allmählig irgend ein in seinen Schöpfungen eminentes Talent zum epochemachenden Genius erhoben hat und daß es große Talente gab, die nur durch Umstände, deren Erörterung hier zu weit führen würde, nicht in die Lage kamen, der Durchgangspunkt geschichtlicher Zufälligkeiten zu werden und sie zu Trägern einer Epoche zu machen, d. h. zu sogenannten »bahnbrechenden Genies.« Oft kommen im gewöhnlichen Leben und in der Kritik Fälle vor, wo man glauben möchte, man sähe das Genie nur da, wo zufällig mit dem Talent ein heißblütiges, sanguinisches Temperament verbunden ist. Ihr armen Verständigen und Besonnenen dann! Mancher hat deßwegen auch schon wirklich Schiller ein Genie und Goethe nur ein Talent genannt.
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Es lebe, so sprach ich vor längeren Jahren in einem gesellschaftlichen Kreise am Todestage Schillers, den neunten Mai, es lebe ein Mann, den ich mit Namen nicht zu nennen weiß! Es lebe ein Unbekannter, ein räthselhaft Namenloser, von dem ich, um ihn kenntlich zu machen, nichts zu sagen vermag, als daß er einmal irgendwo aufgetaucht ist an einem bestimmten Ort, bei einem bestimmten Anlaß, gehüllt in einen Mantel, den Hut tief in die Augen gedrückt, bei einer Huldigung der Liebe und des Schmerzes anwesend war und dann spurlos wieder verschwand – !
Als Friedrich Schiller in die Gruft gesenkt wurde – die nähern Umstände seiner Bestattung sind Gegenstand einer ganzen Literatur geworden – da folgte dem Sarge in nächtlicher Weile nur eine geringe Anzahl von Leidtragenden, deren Namen man verzeichnet hat. Schlichte Bürger sind es gewesen, mittlere Beamte. Man hat aus Schmerz um die geringen Ehren, die man damals dem großen Todten widmete, deren Namen wie in Erz verzeichnet gleich alten Griechen oder Römern, die sich bei einer Waffenthat opferten. Denn ein Opfer mußte man allerdings die Begleitung zu einer Zeit nennen, wo in Weimar eine ansteckende Krankheit herrschte. Von Perikles' Tod an bis in die Tage derCholera kennt man die Wirkung der Epidemieen auf die öffentliche Stimmung. Zu dem kleinen Gefolge gesellte sich, als der Zug auf den Platz bei der Stiftskirche einbog, ein Unbekannter, folgte dem Sarge tiefverhüllt und verschwand nach Vollzug der feierlichen Beisetzung. Sonst schloß sich Niemand an. Alles schlief, als die Fackel dem Zuge voranleuchtete. Kein Sängerchor, keine Marschallstäbe gingen dem Trauerzuge voran, kein Zudrang des Volks beschloß ihn; zwanzig Männer, deren Namen man kennt, und – ein einziger Unbekannter!
Oft schon schlug deutschen Herzen in Ahnungswonne die Brust bei dem Gedanken: das war Goethe ! Die Dichter des kurzen Augustëischen Zeitalters unserer Literatur haben uns selbst das Recht gegeben, mit einer noch höheren Hoffnung die Ahnung zu wagen: das war Karl August ! Bande des Bluts, vermuthet man jetzt, waren es, die den unbekannten Leidträger an den dahin gegangenen Unsterblichen fesselten, und man nannte den Officier Karl von Wolzogen ....
Laßt uns sagen: Es war der Genius des deutschen Volks, der in irdischer Gestalt dem Liebling der Nation die letzte Ehre erwies für uns Alle! Es lebe der verhüllte Träger einer Jahrhundertspflicht – der stumme Vollstreckereiner Volkshuldigung – der Vertreter des Geniencultus – der geheime »Wissende« einer andern Vehme, der Vehme für die Unterlassungssünden, die sich die Menschheit für ihre Priester und Propheten nur zu oft zu schulden kommen läßt, der Unbekannte von Weimars Stiftskirche!
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Nur diejenigen Standbilder rühren und erheben uns, an deren Sockel wir die Inschrift zu lesen glauben: Geweiht dem unermüdlichen Geiste, der immer neu schaffend, nimmer beim Geleisteten lange verweilend, in den Tagen, da er lebte, nicht die Muße und das Glück hat finden können, im Bereich seiner Schöpfungen auszuruhen und zu vernehmen, wie geliebt sie sind und wie bewundert!
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