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Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Titel: Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvester Walch
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der Hand, der andere den Kopf, ein weiterer den Rüssel und der vierte den Bauch, und jeder schließt von seiner Sichtweise auf den ganzen Elefanten. Dies ist gerade im Umgang mit weitreichenden und ganzheitlichen Seinskonzepten zu berücksichtigen, um der Gefahr dogmatischer oder ideologischer Verengung entgegenzuwirken. Erkennen kann sich auf äußere Dinge, auf andere Menschen und auf unser Inneres richten.
    Der Blickwinkel, von dem aus Erkenntnisse gewonnen werden, kann in zwei Hauptrichtungen unterschieden werden: die Erste-Person-Perspektive und die Dritte-Person-Perspektive, die wir uns im nächsten Kapitel ansehen werden.
    In der Erste-Person-Perspektive erkennt jemand etwas, von einer Sache oder von sich selbst, alleine durch den Blick nach innen. Ich denke, ich fühle, ich nehme wahr und ich erkenne. Im weiteren Verlauf werden vor allem introspektive Erkenntnisse und Erlebnisse, die mit dem Menschsein zu tun haben, in den Vordergrund rücken. Eine wichtige Rolle dabei spielen veränderte Bewusstseinszustände, Träume, Glücksmomente und auch schwere Krisen, weil an den Grenzen der Normalität, wenn die gewohnten Raum- und Zeitkoordinaten transzendiert werden, wertvolle Seinserfahrungen bereitliegen.
    Je mehr wir uns auf diese Welten einlassen, desto wichtiger wird die Innenperspektive für das Verstehen, denn wir verlassen den Bereich des Gelernten und öffnen einen Zugang zum Raum des Universalen, zu intuitivem Wissen und berührenden Grundwahrheiten des Lebens.
    Vorübergehend kann dies auch von Ängsten und Erschütterungen begleitet sein, weil die gewohnten Interpretationsschemata nicht mehr greifen. Aussagen aus der Erste-Person-Perspektive sind achtsam anzuerkennen, so wie sie sind, ohne sie durch vorgefertigte Meinungen und gewohnte Erklärungsraster zu verfälschen. Die Herausarbeitung impliziter Botschaften mit Hilfe eines Therapeuten oder spirituellen Begleiters kann die Erfahrungen weiter vertiefen und erweitern. Dabei entsteht ein gemeinsamer Resonanz- und Entwicklungsraum, eine tiefer gehende Schwingung, die das Innere berührt.
    Natürlich können subjektive Erlebnisschilderungen auf ähnliche Bilder, Formen und Inhalte hin untersucht und systematisch zusammengefasst werden, um andere Suchende zu unterstützen. So haben etwa überlieferte persönliche Berichte von Mystikern eine öffnende Wirkung, die sogar spirituelle Erfahrungen beim Lesen initiieren können. Mystische Einsichten werden so auf subtile Art und Weise weitergegeben. Ein Schüler sah ein Foto von Muktananda, einem Siddha-Yoga-Meister, auf dem Einband von dessen Autobiographie und fiel daraufhin in tiefe Versenkung. Spirituelle Entwicklung ist nur über den Weg nach innen möglich.

Das naturwissenschaftliche Paradigma
    Die Dritte-Person-Perspektive möchte, von einem distanzierten und äußeren Standpunkt aus, zu möglichst objektiven Erkenntnissen gelangen. Sie nützt dabei vor allem die experimentelle Beobachtung, die sinnliche Wahrnehmung, computergestützte Analysen und die Erhebung von intersubjektiven Daten. Die Bezeichnung »wissenschaftlich begründet« wird heute vor allem auf diese Form von Erkenntnisgewinnung angewendet.
    Der technische Fortschritt der Menschheit in den letzten Jahrzehnten spiegelt sich in vielen Wissensgebieten wider. In der Medizin wird darüber diskutiert, wie man die Erbanlagen so umprogrammieren kann, dass dem Menschen schwere Krankheiten erspart bleiben und eine bestmögliche Intelligenzausstattung effizientere Lebensentscheidungen hervorbringt. In der Astronautik wird die Ausdehnung des Lebensraumes auf fremde Planeten hin erkundet. Im Bereich der Computertechnologie sind Roboter mit »Bewusstsein« und »Emotionen« keine Fiktion mehr. Zurzeit macht vor allem auch die Hirnforschung von sich reden. Sie hat uns darauf hingewiesen, dass der freie Wille weitgehend eine Illusion ist. Bewusstsein, Ich und Selbst sind nach ihrer Ansicht auch nicht als überdauernde Strukturen aufzufassen, sondern nur im Sinne temporärer kohärenter Hirnströme zu verstehen. Inzwischen sieht sich die Neurobiologie nicht mehr als eine Teildisziplin der Medizin, sondern mehr und mehr als Leitwissenschaft. Es gibt kaum noch Fragen zum Menschen, zur Gesellschaft, zu Religion oder Kultur, zu der sie nicht wortreich Stellung bezieht und darauf pocht, dass ihre Ergebnisse miteinbezogen werden.
    So ist auch nicht verwunderlich, dass im modernen wissenschaftlichen Menschenbild immer mehr die Gewichte zugunsten der

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