Vom Himmel das Helle
solch außergewöhnlichen und belastenden Situationen neutral umzugehen. Zumindest versuchte ich es. Frank dagegen nahm meist abrupt die Haltung des Verurteilenden an. In der Hoffnung, sich dadurch zu schützen. »Ich muss Dampf ablassen, sonst explodiere ich«, behauptete er jedes Mal. Und dabei klang seine Stimme nie zaudernd, sondern meistens bedeutungsschwer.
Heute ließ Frank seinen Blick davonirren, hinein in die Büsche und Bäume des Gartens, als könne er ihn dort in der friedlichen Sicherheit der Hecken und Sträucher verstecken. Psychoanalyse oder gar Tiefenpsychologie waren nichts für ihn, obwohl er ständig beruflich damit zu tun hatte. Er ließ lediglich die neuesten Forschungsergebnisse über die immer besser verständlichen Funktionen des menschlichen Gehirns gelten. Das leuchtete ihm ein. Und alles, was ihm einleuchtete, ließ er zu.
»Nach dem Verlust eines geliebten Menschen oder auch infolge eines einschneidenden Vorfalls, wie ihn Almut Lohmann am eigenen Leib erfahren hat, sozusagen einer Situation, die unser Gefühl und das Bedürfnis nach Sicherheit in Frage stellt, gerät unser Nervensystem vorübergehend gewaltig in Unordnung«, erklärte ich ihm. »Die gewohnte Orientierung funktioniert nicht mehr. Es braucht Zeit, um die Hömöostase wiederzuerlangen.« Frank und ich blieben neben einer riesigen rosafarbenen Hortensie stehen, die ihre Blätter und Blüten sanft im Wind wiegte.
»Die was wiederzuerlangen?!« Er schnippte seine Zigarette, die er hastig zu Ende geraucht hatte, weg und drehte sich zu mir um. Offenbar hatte er mir bisher nur halb zugehört. »Das Gleichgewicht, Frank. Frau Lohmann braucht Zeit, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Deshalb ihre seltsamen Ansagen.«
»Ja, klar, weiß ich doch. So was faselst du ständig. Jeder braucht anscheinend Zeit. Nur, die haben wir nicht«, regte er sich auf. Er ließ mich allein im Garten zurück, um sich erneut in der Villa zu verschanzen. Es würde noch ein paar Zigaretten brauchen, bis er das von mir Gehörte akzeptieren konnte. Wie immer musste ich die Geduld aufbringen.
Kaum war Frank außer Sichtweite, begann ich darüber nachzugrübeln, ob es mich kränkte, dass ich Almut sofort erkannt hatte, während sie es offenbar nicht tat. Doch ich fand keine Antwort darauf.
Sieben
Almut musste das Bewusstsein verloren haben, denn als sie zu sich kam, stand Friedrich da. Er nahm mit seinem Körper den gesamten Raum ein und ließ nur wenige Schritte Sicherheitsabstand zwischen sich und ihr. Er war ausnahmsweise früher nach Hause gekommen, weil sie ihn vor etwas mehr als zwei Stunden im Büro erreicht und um ein Gespräch zu Hause gebeten hatte. Er hatte seine Termine nicht überprüfen müssen, um ihr zu sagen, dass das nach einem kleinen organisatorischen Kunststück verlangte. Mittags zu Hause, in seiner Villa, am Rand der Stadt, wo das Leben Luft zu holen schien. Das war regelrecht absurd und kam dementsprechend selten vor. Sie hatte gelacht und ihn mit wenigen Sätzen geschickt um den Finger gewickelt: »Ich hab Sehnsucht nach deinem Körper, Friedrich. Ich brauch dich hier, bei mir. Es wird nicht lange dauern, unser Gespräch von Haut zu Haut.«
Sie spürte, wie eine seltsame, alles verbrennende Hitze in ihrer Brust aufflammte, als sie ihn jetzt durch dick geschwollene, blutverkrustete Augen anblickte. Er sah mit seinem Blick durch sie hindurch in eine andere, unbeschädigte Welt, die er sich garantiert wünschte, aber nicht mehr vorfand. Almut spürte, dass ihr das Leben, trotz allem, auf hinterhältige Weise vertraut war, verstörend vertraut, jedes Mal, wenn sie Friedrich sah. Mit jedem Schritt, den er näher kam, indem er seine Füße in die Blutschlieren setzte und sie verteilte, gewann das Leben härtere Konturen. Seine Stimme klang wie zerbrochenes Glas, als er sie ansprach: »Almut? Oh Gott, was ist mit dir?!« Seine Augen schienen zu schwimmen, als er sich über sie beugte, und doch lag etwas anderes dahinter. Eine stumpfsinnige Aggressivität, eine boshafte Verschlagenheit. Dachte er an Rache, daran, wie er das hier wieder gut machen könnte, nachdem er den Kerl, der das mit seiner Frau angerichtet hatte, geschnappt und halb totgeschlagen hätte? Draußen fiel der Regen stetig und starr, wie eine Anklage. Wenn sie nur hassen könnte, dachte sie bei sich. Wenn sie ihn nur hassen könnte!?
Aus der hinteren Ecke, dort, wo der Flachbildfernseher an die Wand montiert war und wo sie sich abends oft aufhielten, um in eine
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