Vom Himmel das Helle
auf Erden, unser ausführendes Organ im Äußeren. Er qualifiziert uns dazu, tätig zu sein und anderen Menschen auf der körperlichen Ebene zu begegnen.« Marks Stimme war plötzlich wie eine Decke im Winter, in die man sich hineinkuscheln konnte. Als ich den Gedanken zuließ, dass sein Reden das in mir auslöste, spürte ich, wie ich regelrecht in Marks Arme fiel. Nicht in Wirklichkeit, denn er hatte ja keinen Körper, aber gefühlsmäßig. Ich konnte mich ihm nicht länger entziehen. Ich sank regelrecht in ihn hinein. »Nach dem Tod des Körpers, nach dem Sterben, stellst du plötzlich fest, dass etwas passiert, worauf dich niemand vorbereitet hat. Du lebst immer noch, obwohl jeder auf Erden dir gesagt hat, du würdest es nicht tun. Deine Gedanken und Emotionen funktionieren. Besser als zuvor. Du scheinst über deinem toten Körper zu schweben, wie eine Wolke am Himmel. Du kannst dich in Gedankenschnelle überallhin bewegen. Du siehst, fühlst, wie die Hinterbliebenen um dich weinen, und möchtest ihnen sagen, dass sie aufhören sollen. Du bist immer noch da, obwohl sie dich nicht mehr sehen können. Du sie aber schon.«
Mit linkischer Geste wischte ich eine Träne aus meinen Augenwinkeln. Ich war fest entschlossen, dem gewöhnlichen Leben standzuhalten. Denn wenn ich es nicht täte, müsste ich vor mir selbst zugeben, dass ich in Mark meinem Korrektiv begegnet war. »Wenn das, was du erzählst, stimmt, hieße das, dass ich die Toten, zu denen ich gerufen werde, ihre Seelen, noch vorfände?« Ich schluckte schwer, so sehr beschäftigte mich das, worüber Mark mit mir sprach. Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob meine Version unseres Daseins die Richtige war. Was, wenn mein Leben bisher ein Berg aufgeworfener Erde gewesen war. Ohne Struktur, aber mit genügend Inhalt und einem Fundament, wenn ich erst mal Ordnung in alles gebracht hätte.
»Ja, Lea. Du kannst mit Toten sprechen. Sie könnten dir wertvolle Hinweise liefern. Zum Beispiel darüber, wer der Täter ist und warum es überhaupt zur Tat kam.«
Wenn es mir bisher gelungen war, mich notdürftig gegen die Überraschungen in Marks Aussagen zu wappnen, dann brach dieser Mechanismus in diesem Moment in sich zusammen. Plötzlich drehte sich alles um mich herum, zerfloss vor meinen Augen und ordnete sich neu. Ich fühlte mich, als sei ich in einen Strudel hineingeraten. Einen, der mich in unvorstellbare Höhen und in noch weniger vorstellbare Tiefen zog. Was ich durch Mark erfuhr, sprengte meine gesamte Vorstellungskraft. Es war derart unglaublich, dass ich es weder annehmen, aber auch nicht völlig ignorieren konnte.
»Ich bin zu dir gekommen, um deine Feinfühligkeit zu schulen. In nicht allzu ferner Zeit wird es für dich nicht mehr darum gehen, Kriminalfälle zu lösen, sondern darum, sie zu verhindern.« Mark machte erneut eine kurze, bedeutungsschwere Pause. Ich spürte, wie seine Worte regelrecht in mich hineinkrochen. In jeden Winkel meines Körpers. Um dort ein neues Zuhause zu finden. Egal, ob ich meine Einwilligung dazu gab, oder nicht. »Ich warte schon so lange darauf, dass du mir zuhörst.«
»Ach ja?«, schoss ich hervor. Mit meinem letzten Rest an Gegenwehr. Ich war noch nicht bereit aufzugeben. »Wie lange wartest du angeblich darauf, dass ich ganz Ohr bin?«
»Über dreißig Jahre, Lea.«
»Oh, mein Gott!« Ich vergrub mein Gesicht für einen kurzen Moment in den Händen und lugte zwischen den gespreizten Fingern hindurch.
Ich musste mich verhört haben. Mark konnte unmöglich von einer derartigen Zeitspanne gesprochen haben. »Dreißig Jahre sind nur für dich eine lange Zeit. In Wahrheit ist es ein Windhauch, den man kaum auf der Haut spürt.« In meinem Kopf explodierte ein Gedankenkonstrukt unglaublichen Ausmaßes. Ich hörte Mark gar nicht mehr richtig zu. Seine Wahrheiten schienen viel zu weit weg von meinen zu sein. Er war ein Exot unter lauter Normalen, von denen ich eine war. Doch mein Status der Normalität hatte Risse bekommen und ich kam kaum mit der Beseitigung des Schadens nach. Ich hetzte und eilte, reparierte und war unablässig tätig. Doch es fühlte sich mit jedem Loch, das ich stopfte, falscher als zuvor an. Ich beobachtete mich selbst und es schien, als restauriere ich eine Ruine, die schon am nächsten Tag zum Abriss freigegeben werden würde.
Nach einer Weile nahm ich all meinen Mut zusammen, um eine letzte Frage zu stellen. Eine, die alles für mich ändern würde. »Weißt du etwas über meine Mutter,
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