Vom Kriege
Mittel im Kriege ist: so ist es doch, eben wegen seiner bloßen geometrischen Natur, nichts als eine neue Einseitigkeit, welche nimmermehr dahin gelangen konnte, das wirkliche Leben zu beherrschen.
[104] Alle diese Versuche sind verwerflich
Alle diese Theorieversuche sind nur in ihrem analytischen Teil als Fortschritte in dem Gebiet der Wahrheit zu betrachten, in dem synthetischen Teil aber, in ihren Vorschriften und Regeln, ganz unbrauchbar.
Sie streben nach bestimmten Größen, während im Kriege alles unbestimmt ist und der Kalkül mit lauter veränderlichen Größen gemacht werden muß.
Sie richten die Betrachtung nur auf materielle Größen, während der ganze kriegerische Akt von geistigen Kräften und Wirkungen durchzogen ist.
Sie betrachten nur die einseitige Tätigkeit, während der Krieg eine beständige Wechselwirkung der gegenseitigen ist.
Sie schließen das Genie von der Regel aus
Alles, was von solcher dürftigen Weisheit einer einseitigen Betrachtung nicht erreicht werden konnte, lag außer der wissenschaftlichen Einhegung, war das Feld des Genies, welches sich über die Regel erhebt.
Wehe dem Krieger, der zwischen diesem Betteltum von Regeln herumkriechen sollte, die für das Genie zu schlecht sind, über die es sich vornehm hinwegsetzen, über die es sich auch allenfalls lustig machen kann! Was das Genie tut, muß gerade die schönste Regel sein, und die Theorie kann nichts Besseres tun, als zu zeigen, wie und warum es so ist.
Wehe der Theorie, die sich mit dem Geiste in Opposition setzt! sie kann diesen Widerspruch durch keine Demut gutmachen, und je demütiger sie ist, um so mehr wird Spott und Verachtung sie aus dem wirklichen Leben verdrängen.
Schwierigkeit der Theorie, sobald geistige Größen in Betracht kommen
Jede Theorie wird von dem Augenblick an unendlich viel schwieriger, wo sie das Gebiet geistiger Größen berührt. Baukunst und Malerei wissen genau, woran sie sind, solange sie noch mit der Materie zu tun haben; über mechanische und optische Konstruktionen ist kein Streit. Sowie aber die geistigen Wirkungen ihrer Schöpfungen anfangen, sowie geistige Eindrücke oder Gefühle hervorgebracht werden sollen, verschwimmt die ganze Gesetzgebung in unbestimmte Ideen.
Die Arzneikunst ist meistens nur mit körperlichen Erscheinungen beschäftigt, sie hat es mit dem tierischen Organismus zu tun, der, ewigen Veränderungen unterworfen, in zwei Momenten nie genau derselbe ist; das macht ihre [105] Aufgabe sehr schwierig und stellt das Urteil des Arztes schon höher als sein Wissen; aber wieviel schwieriger ist der Fall, wenn eine geistige Wirkung hinzukommt, und wieviel höher stellt man den Seelenarzt!
Die geistigen Größen können im Kriege nicht ausgeschlossen werden
Nun ist aber die kriegerische Tätigkeit nie gegen die bloße Materie gerichtet, sondern immer zugleich gegen die geistige Kraft, welche diese Materie belebt, und beide voneinander zu trennen, ist ganz unmöglich.
Die geistigen Größen aber sieht man nur mit dem inneren Auge, und dieses ist in jedem Menschen anders und oft bei demselben in verschiedenen Augenblicken verschieden.
Da die Gefahr das allgemeine Element ist, in dem sich im Kriege alles bewegt, so ist es auch vorzüglich der Mut, das Gefühl der eigenen Kraft, durch welches das Urteil anders bestimmt wird. Es ist gewissermaßen die Kristallinse, durch welche die Vorstellungen gehen, ehe sie den Verstand treffen.
Und doch kann man nicht zweifeln, daß diese Dinge schon durch die bloße Erfahrung einen gewissen objektiven Wert bekommen müssen.
Jeder kennt die moralischen Wirkungen des Überfalls, des Seiten- und Rückenangriffs, jeder schätzt den Mut des Gegners geringer, sobald er den Rücken gewandt hat, und wagt ganz anders beim Verfolgen als beim Verfolgtwerden. Jeder beurteilt den Gegner nach dem Ruf seiner Talente, nach seinen Jahren und seiner Erfahrung und richtet sich danach. Jeder tut einen prüfenden Blick auf den Geist und die Stimmung seiner und der feindlichen Truppen. Alle diese und ähnliche Wirkungen im Gebiet der geistigen Natur haben sich in der Erfahrung erwiesen, sind immer wiedergekehrt und berechtigen dadurch, sie in ihrer Art als wirkliche Größen gelten zu lassen. Und was sollte wohl aus einer Theorie werden, in der man sie unbeachtet lassen wollte?
Aber freilich ist die Erfahrung ein notwendiger Stammbrief dieser Wahrheiten. Mit psychologischen und philosophischen Klügeleien soll keine Theorie sich befassen und kein
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