Vom Liebesleben der Stechpalme: Roman (German Edition)
eine rein praktische Hilfe. Mein Nachbar Kurt, der sein Auto auf
polnischen Straßen testen möchte. Er ist ein Abenteurer.«
»Kein Problem,
Valeska. Ich buche für euch eine hübsche Pension in den Bergen. Wir sehen uns also
bei der Ausstellung. Die Einladung ist schon unterwegs.«
Nachdem
ich den Hörer aufgelegt hatte, blieb ich nachdenklich am Schreibtisch sitzen. Die
Fahrt war beschlossen, Kurt würde mitfahren. Ich ahnte, was auf mich zukommen würde.
Von Anfang an, wo immer er auch auftauchte, spitzten sich die Ereignisse zu.
Vor einem
Jahr hatte Kurt seine Wohnung bezogen, die zwei Etagen über meinem Büro lag. Der
Tag, an dem er einzog, bescherte dem Scheidungsanwalt aus dem Vorderhaus neue Kundschaft.
Dabei fing
alles ganz harmlos an: Am Vormittag verdeckte eine Holzplatte von außen mein Bürofenster.
Normalerweise hätte mich das nicht gestört. Für die Arbeit an meiner Übersetzung
leuchtete die Schreibtischlampe hell genug. Das Problem war nur, dass mich die kleinste
Unregelmäßigkeit aus der Bahn warf. Zu lange hatten die Streitigkeiten während meiner
Ehe und die aufreibenden Versöhnungsversuche an meinen Nerven gezerrt. Ich sprang
vom Schreibtisch auf. Wütend ging ich hinaus. Den Übeltäter, den egoistischen, gedankenlosen
Menschen, der für die Finsternis in meinem Büro verantwortlich war, wollte ich ordentlich
beschimpfen. Mitten auf dem Hof parkte ein Umzugswagen und vor meinem Bürofenster
stand ein Möbelstück. Ein Mann – zerknitterter Regenmantel, tief in die Stirn gezogener
Hut – lehnte gegen dieses Ungetüm und rauchte Pfeife. Wutentbrannt fragte ich: »Was
ist das bitte?«
Er war die
Ruhe selbst. »Louis-Philippes Sekretär in Birne.«
»Und was
soll er hier?«
»Stammt
aus dem Nachlass meiner Tante.«
»Schaffen
Sie Ihren Luis sofort weg, er verstellt mein Bürofenster! Ich brauche Licht.«
»Selbstverständlich.
Gleich werden die Möbelpacker erscheinen, sie werden ihn in die Wohnung tragen.
Sie sind also meine Nachbarin«, er lächelte mich an. »Darf ich mich vorstellen:
Kurt Schöne.«
Just in
diesem Moment kam mein Ehemann von der Arbeit und sah mich neben dem Umzugswagen.
»Du ziehst aus, Valeska?«
Bevor ich
antworten konnte, nahm er mich in die Arme. »Du bist stark. Ich wusste, du triffst
die richtige Entscheidung. Das ist das Beste für uns beide. Was sage ich, für uns
drei. Du hast bestimmt auch an Babsi gedacht, sie ist eine so sensible junge Frau.
Ich bin glücklich, dass unser Gezerre endlich aufhört.«
Erschrocken
trat ich zurück. Sein Gesicht war entspannt, fast fröhlich.
Jetzt zog
ich tatsächlich einen Schlussstrich. Eine halbe Stunde später stellte ich seine
Koffer vor die Tür.
Am Abend
traf ich Kurt Schöne in einem Biergarten um die Ecke. Ich suchte Ablenkung von meinen
Problemen, er suchte Bekannte in seiner neuen Wohngegend. Von da an trafen wir uns
oft an Sommerabenden im Gartenlokal, im Herbst wechselten wir in ein warmes Café,
im Winter saßen wir bei Kurt zu Hause. Manchmal kam auch seine Exfrau dazu, ein
anderes Mal seine Freundin Katrin. Im Frühjahr verließ ihn Katrin, um auf einer
griechischen Insel mit einem jungen Fischer zu leben. Kurt litt und redete viel.
Ich leistete ihm Gesellschaft und hörte zu.
Meine Scheidung
zog sich in die Länge, denn mein Mann entwickelte eine sentimentale Ader: Von allen
Gegenständen, die ihn an unsere gemeinsame Zeit erinnerten, wollte er exakt die
Hälfte. Sogar das Schachspiel mussten wir teilen. Ich bekam die Figuren, er das
Brett. Zum Glück konnten wir uns beim Auto und bei der Dogge einigen. Ich überließ
ihm das Auto, dafür behielt ich den Hund. Diesen Erfolg feierte ich ausgiebig mit
Kurt. Seine Hausbar erlebte damals Glanzzeiten.
Bald wusste
ich alles über Kurt. Na, fast alles. Er war stolz, ein Berliner zu sein. Wie bei
vielen ›waschechten Berlinern‹ kamen seine Vorfahren aus Ostpreußen und Schlesien.
In einem Häuschen am Stadtrand verbrachte er eine glückliche Kindheit. Seine Mutter
war Schauspielerin, sein Vater Professor für Literatur. Kurt erbte die Neigungen
beider Erzeuger. Schon als Kind trat er gerne in Schulaufführungen auf und las alles,
was ihm unter die Augen kam. Später beschäftigte er sich sogar mit Sumerisch, sodass
er Texte im Original studieren konnte. Spielend lernte er schwierige Sprachen, zuletzt
Polnisch.
Seine geliebte,
vor einigen Jahren verstorbene Tante hinterließ ihm viel mehr als nur antikes Mobiliar.
Von einem Tag auf den anderen besaß
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