Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
muss
Johanna um sechs Uhr aufstehen. Da ich ohne ersichtlichen Grund um zehn vor
sechs aufwache, wecke ich sie kurz und verfalle anschließend sofort wieder in
einen komatösen Tiefschlaf. Gegen acht Uhr allerdings meldet sich der PET-Wein,
und so verlasse ich die Herberge samt Sack und Pack, um irgendwo einen café
con leche aufzutreiben. Ein seltsames, aber auch befreiendes Gefühl
überkommt mich, als ich Richtung Dorfzentrum hinuntertrotte. Ganze
sechsundzwanzig Tage am Stück bin ich gewandert, und es verblüfft mich, dass
heute der allererste Tag nach knapp vier Wochen ist, an dem ich einen Ruhetag
einlegen würde. Gemeinsam mit dem angestoßenen Knöchel piesackt mich die
geplatzte Blase bei jedem Schritt. Schade, dass Johanna schon heute nach Hause
fliegen musste. Jetzt schlendere ich völlig allein durchs Dorf.
Im morgendlichen Muxía geht es
beschaulich und verschlafen zu, und so setze ich mich in eine Bar an der
Hafenpromenade, um mich unter die einheimischen Arbeiter und Fischer zu
mischen. Da ich weit und breit der einzige Pilger bin, falle ich auf wie ein
bunter Hund. Mein obligatorisches »¡Hola!« wird von den stattlichen,
hartgesottenen Kerlen freundlich erwidert. Herrlich, wie ich zwischen ihnen an
der Theke sitze, meinen Kaffee schlürfe und meine Notizen ergänze. Um mich
herum haben sich die Männer mit ihren rauen, leicht klischeehaften Stimmen
einiges zu erzählen. Selbstverständlich verabschiedet mich die gesamte Meute,
als ich später die Bar verlasse.
Mein Bus nach Santiago fährt um
halb drei. Genug Zeit also, um die Landzunge bei Tageslicht etwas genauer zu
erkunden. Der Legende nach soll Jakobus auf der iberischen Halbinsel
missioniert haben; allein das wird von den meisten Historikern schon stark
angezweifelt. Noch besser ist aber folgende Geschichte: Angeblich soll Jakobus
bei seiner Missionierungstätigkeit der Mut verlassen haben. Da erschien ihm die
Jungfrau in einem Steinschiff (galicisch: virxe da barca), und zwar
genau hier in Muxía. Die seltsamen Felsformationen vor der Kirche, dem
Santuario da Virxe da Barca, sollen die Reste des mysteriösen Steinschiffs
sein. Schon hatte Muxía eine Jakobuslegende und damit eine lukrative
Einnahmequelle. Nun denn, auch wenn das alles kompletter Mumpitz ist, den
ungewöhnlichen Innenraum des Heiligtums muss man einmal gesehen haben. Nicht
nur der spektakuläre Altar ist einen genaueren Blick wert; an zahlreichen
Halterungen im gesamten Kirchenraum hängen Modellschiffe herunter. Leider ist
die Eingangstür abgeschlossen, allerdings kann man durch eine Luke
hineinblicken.
Schließlich steige ich auf die
Wrackteile des heiligen Steinschiffs und genieße die strahlende Sonne, die
knackige Brise und die wenige Schritte vor mir tosende Gischt. Ich fühle, dass
meine Pilgerschaft zu Ende ist. Wenn mich jetzt jemand fragen würde, woran man
das erkenne, würde ich antworten: Man erkennt es einfach. Alle Zweifel, die
mich in Santiago so sehr belastet haben, haben sich in Luft aufgelöst. Alle
Fragen, die ich mir vor Santiago gestellt habe, beispielsweise nach dem Sinn
meiner Pilgerschaft, haben sich beantwortet. Nicht wie erwartet mit einem
schlauen Satz oder einer rationalen Erklärung, sondern mit einem erfüllenden
Gefühl. Ungefähr so muss es sich anfühlen, der Liebe seines Lebens zu begegnen,
vielleicht einen Hauch aufregender. Ich setze mich auf die kniehohe Mauer vor
dem Heiligtum und nehme meine Jakobsmuschel vom Rucksack. Seit Santo Domingo de
la Calzada hat sie mich als Pilger ausgezeichnet, mich auch irgendwie
beschützt; zumindest hatte ich mit ihr am Rucksack immer das Gefühl, dass ich
mir auf dem Seitenstreifen einer Nationalstraße keine Sorgen machen muss, von
einem Lkw planiert zu werden. Besonders in Spanien gilt es nämlich als Unsitte,
Pilger zu überfahren. Sorgfältig verpackt verstaue ich die Muschel in meinem
Rucksack.
Innerlich befreit kehre ich ins
Dorf zurück. Und siehe da, es ist Markt. Wobei sich das Ganze nicht auf einen
Marktplatz konzentriert, viel mehr greifen die Standreihen von einem zentralen,
jedoch winzigen Platz aus krakenartig in die Seitengassen. An einer churrería decke ich mich mit einer grobschlächtigen Menge churros ein, keine
Ahnung, was die Standfrau denkt, jedenfalls habe ich diese langgezogenen,
frittierten Süßgebäcke in Santiago kennen und lieben gelernt. Eine geschlagene
Stunde lang hänge ich am Hafen auf einer Bank (sitzen kann man die Körperhaltung
beim besten Willen nicht nennen)
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