Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
dagegen habe ich häufiger
getroffen, das erste Mal wahrscheinlich in Sahagún, das letzte Mal irgendwo bei
Rabanal del Camino. Ich spreche sie direkt an, und es überrascht mich kaum,
dass auch Martina und Jasmin mich wiedererkennen, obwohl wir uns nicht
permanent über den Weg gelaufen sind. Zu viert besetzen wir einen Tisch vor
einer Bar und bestellen eine Flasche Rotwein. Wir plauschen extrem entspannt
miteinander und haben einen herrlich spaßigen Abend. Später gesellt sich noch
ein junges, spanisches Pilgerpärchen hinzu, und Jasmin unterhält sich mit ihnen
auf Spanisch. Da sie auf Teneriffa lebt und arbeitet, gibt es für sie keine Sprachbarrieren
zu überwinden. Ich verstehe zwar den Großteil des Gesprächs, kann mich aber mit
meinem mäßig ausgeprägten Vokabular nur selten einklinken. Jasmin erzählt, dass
sie die letzten Kilometer mit mehreren Reitern unterwegs war. Pferdepilger sind
zwar extrem selten, trotzdem kommt jährlich eine dreistellige Anzahl von ihnen
in Santiago an. Für sie gelten strikte Regeln, beispielsweise dürfen sie nicht in
jeder x-beliebigen Herberge übernachten und müssen morgens vor elf Uhr in
Santiago ankommen. Danach ist das Stadtzentrum 2umindest für die Tiere
gesperrt. Ich lehne mich zurück, genieße die entspannte Atmosphäre und das
Gemurmel um uns herum und lasse mir den Wein schmecken.
Beim Abschied fällt der Satz:
»Wenn es das Schicksal will, werden wir uns wiedersehen.« Wir tauschen keine
Kontaktdaten aus und gehen auseinander.
Als ich auf dem Rückweg zur
Herberge an der Ostseite der Kathedrale vorbei über den Praza da Quintana
laufe, kommen mir einige Spanier entgegen. Einer von ihnen deutet plötzlich auf
die Kathedrale und erzählt etwas von »peregrino«. Ich werde neugierig
und blicke auf die Stelle, auf die der junge Mann seinen Zeigefinger richtet.
Wie genial ist das denn? In einer Ecke ist der Schatten eines Pilgers mit Hut
und Pilgerstab zu sehen. Rein zufällig sind ein paar Elemente des Bauwerks so
angeordnet, dass sie durch einen Strahler, der zur Illumination der Kathedrale
angebracht wurde, einen Pilgerschatten auf der Außenmauer ergeben. Wäre ich nur
zehn Sekunden früher hier vorbeigekommen, ich hätte nichts bemerkt und diesen
wunderbaren Tagesabschluss verpasst. Darüber freue ich mich noch, als ich
längst im Doppelbett liege. Diagonal natürlich, davon habe ich sechsundzwanzig
Nächte geträumt.
Samstag, 26.
September 2009
Verdammt noch mal, ich habe verschlafen.
Nein, eigentlich habe ich nur ausgeschlafen. Es ist so ziemlich genau neun Uhr.
Eilig packe ich meine Sachen zusammen; wieso ich sie für nur eine Nacht im
ganzen Zimmer verteilen musste, kann ich heute Morgen überhaupt nicht
nachvollziehen. Etwa eine halbe Stunde später stehe ich an der Rezeption. Außer
zwei ratlosen Gästen, die ebenfalls auschecken möchten, treffe ich niemanden
an. Das kann ich so nicht akzeptieren. Wenn ich es unheimlich eilig hätte, und
das habe ich zufällig, dann hätte ich jetzt ein Problem. Allerdings habe ich
dank des Camino nach und nach gelernt, straff und pragmatisch zu handeln. Also
latsche ich kurzerhand in voller Montur in die Küche und schnappe mir die
nächstbeste Dame, die dort herumlungert und mit ihrer Kollegin quatscht. Schon
können alle auschecken, und niemand muss sich aufregen.
Mein rechter Fuß schmerzt zwar
immer noch, aber das interessiert mich gerade eher weniger. Viel wichtiger ist,
dass ich Avril finde. Während ich die ankommenden, glücklichen Pilger mustere,
laufe ich in flottem Tempo Richtung Mercado de Abastos. Obwohl ich mich beeile,
bleibe ich innerlich völlig ruhig. Dabei bin ich doch eigentlich ein
Pünktlichkeitsfanatiker. Klar komme ich häufig zu spät, aber wenn ich mich mit
jemandem verabrede, hasse ich Unpünktlichkeit wie die Pest. Vielleicht habe ich
inzwischen Sebastians letztjährige Erkenntnis dermaßen verinnerlicht, dass ich
mich nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Gefühl darauf einlassen kann:
Wenn du es nicht ändern kannst, akzeptiere es und mache das Beste daraus. Noch
so ein Satz, dessen Inhalt eigentlich völlig logisch und simpel erscheint.
Häufig ist nicht das Verständnis das Kernproblem, sondern die Überzeugung. Auf
dem Camino habe ich etliche Momente erlebt, in denen sich der Satz bewahrheitet
hat. So habe ich mich mehr und mehr von seinem Gehalt überzeugen lassen.
Praktische Folge: Ich hetze, ohne zu hetzen. Als ich allerdings den Mercado de
Abastos erreiche, trifft
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