Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
und knabbere einen churro nach dem
anderen in mich hinein. Vor mir dümpeln unzählige Fischerboote im Hafenbecken,
über mir strahlt wie schon die gesamte Woche über die Sonne, und nur selten
verirrt sich jemand hierher. Mann, ist das Leben gut.
Nach einer Weile gesellt sich
eine dreiköpfige, deutsche Pilgerfamilie zu mir. Mutter und Tochter plappern
fröhlich auf mich ein, der Vater sucht irgendetwas, aus mangelndem Interesse
bekomme ich aber nicht mit, was genau. Ich vermute stark, dass die Familie
gerade erst in Muxía angekommen ist. Vor meiner Wortkargheit kapitulierend,
beginnen sie ein familieninternes Gespräch. Dabei sprechen sie aber extra so
laut, dass ich alles mitbekomme. Merken die nicht, dass ich etwas Ruhe brauche?
Ich packe meine Sachen zusammen und verschwinde. An der Uferpromenade setze ich
mich vor eine Bar und vertrödle die Wartezeit. Um zwanzig nach zwei schlendere
ich zur Bushaltestelle, wo sich nach und nach weitere Fahrgäste einfinden.
Darunter sind allerdings kaum Pilger, schon gar keine bekannten Gesichter. Zehn
Minuten später fährt der Bus schließlich vor, und zum ersten Mal nach
sechsundzwanzig Tagen bewege ich mich schneller als mit sieben
Stundenkilometern. Es fühlt sich merkwürdig an, all diese Kilometer mühelos zu
überfliegen. Weiler, Dörfer, Siedlungen huschen am Fenster vorbei, so gleich,
so uniform, so unglaublich langweilig und tot. Zwischendurch halten wir in
Negreira, immer wieder fahren wir auf dem Camino oder kreuzen ihn. Ein ebenso
merkwürdiges Gefühl, die wenigen wandernden Pilger dort draußen zu sehen.
Als wir zweieinhalb Stunden
später in Santiago im Stau stehen werde ich extrem unruhig; ich bin es gewohnt,
jederzeit weiterlaufen zu können, der Zwangsstillstand irritiert mich. Erleichtert
steige ich am schummrigen Busbahnhof aus, lege entspannt die anderthalb
Kilometer zur Altstadt zurück und quartiere mich in der Pension direkt neben
der am Sonntag genutzten Herberge ein. Für fünfundvierzig Euro bekomme ich das
letzte freie Zimmer: ein Doppelzimmer, was für eine perverse Dekadenz, aber den
Spaß gönne ich mir. Außerdem habe ich mich neuerdings auf letzte Betten, letzte
Zimmer, letzte Minuten spezialisiert. Nachdem ich meine Sachen in Zimmer Nummer
hundertdrei ausgebreitet habe, setze ich mich an den Internetrechner und rufe
gespannt meine E-Mails ab. Erfreut stelle ich fest, dass eine Antwort-Mail von
der Dame mit dem weißen Hut eingegangen ist. Avril schreibt mir, dass sie
gestern Abend die Kathedrale von Santiago erreicht habe. Es kommt noch besser:
Sie teilt mir mit, dass sie nach dem Durchlesen meiner E-Mail beschlossen habe,
bis morgen in der Stadt zu bleiben, um auf mich zu warten. Am morgigen
Nachmittag werde sie mit dem Bus nach Fisterra fahren. Großartig, ich freu’
mich! Morgen früh möchte sie mit ihrer deutschen Pilgerbekanntschaft Lyn auf
den traditionellen Markt, dem Mercado de Abastos; ich solle doch hinkommen. Ja,
das werde ich auch!
Natürlich hoffe ich, dass wir
uns schon vorher über den Weg laufen. Also schlendere ich den Rest des Abends
durch die stimmungsvolle, aber zwangsläufig überlaufene Altstadt und halte nach
einem weißen Hut Ausschau.
Auf der Treppe vor dem
Südportal der Kathedrale ruft mir jemand entgegen: »Hey, Schalke!« Der
allererste Mensch, der mich direkt auf mein Trikot anspricht, und das einen Tag
vor der Abreise. Ehrlich gesagt hatte ich vor Reiseantritt erwartet, einigen
Pilgern in Fußballtrikots zu begegnen. Im Endeffekt habe ich keinen einzigen
getroffen, besonders keine Lüdenscheider. Funktionsshirts hin oder her, Trikots
sehen toll aus (bis auf die Auswärtstrikots des SV Werder) und kosten lediglich
einen Bruchteil, wenn man ältere Modelle bevorzugt. Ich finde, besonders für
die Roten Teufel ist es eine Pflicht, in einem FCK-Trikot zu pilgern, pilgernde
Teufel, das wär’s.
Aber bisher sehe ich weder
Teufel noch Avril. Stattdessen treffe ich Philipp aus Wien wieder. Der läuft
mir aber auch verdammt häufig über den Weg. Wir wechseln nur wenige Worte, denn
er muss dringend irgendwo hin. Da es sein letzter Tag ist, wünschen wir uns
gegenseitig eine reibungslose Rückreise. Kurze Zeit später erkenne ich drei
flüchtige Pilgerbekanntschaften wieder, zwei von ihnen bin ich lediglich ein
einziges Mal begegnet: Martina in Sahagún (gemerkt, weil sie von Bettwanzen
zerstochen worden war), und Jasmin in Calzadilla de la Cueza (gemerkt, weil sie
so laut telefonierte). Martin aus Österreich
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