Von Alkohol bis Zucker - 12 Substanzen die die Welt veränderten
Marker im Streit aus der Firma Syntex ausgeschieden war, stellte der Inhaber fest, dass man kein Progesteron mehr herstellen konnte, weil Marker alle Chemikalien nur unter Codebezeichnungen eingesetzt und seine Laborprotokolle mitgenommen hatte. Es musste schnell ein fähiger Chemiker her, der das Problem löste, sonst wäre die Firma pleite. Dieser Chemiker fand sich auch. Er hieß Carl Djerassi, sein Vater stammte aus Bulgarien, die Mutter aus Wien. Der geborene Österreicher war 1939 mit seinem Vater nach Amerika emigriert. Djerassi gelang es nicht nur, Markers Synthesen zu wiederholen, sondern er entwickelte bei Syntex das künstliche Hormon Norethisteron , ein sogenanntes Gestagen , das heute noch in der Minipille verwendet wird.
Norethisteron und das schon eingangs erwähnte Ethinylestradiol waren die wirksamen Bestandteile der ersten in Deutschland zugelassenen Pille. Aber 1951 war davon noch keine Rede; Norethisteron war ein Präparat, das dieselben Wirkungen wie Progesteron hervorrief – nur in viel geringerer Dosierung. Verwendet werden sollte es als Mittel gegen Menstruationsbeschwerden. Gregory Pincus suchte zwar die Pille, hatte aber von dem neuen, »künstlichen« Progesteron keine Ahnung (die Ergebnisse von Djerassi und seinen Mitarbeitern waren noch nicht publiziert). Die einzige ihm bekannte Substanz, die den Eisprung verhindern konnte, war eben das wenigstens in ausreichenden Mengen verfügbare Progesteron, das allerdings gewichtige Nachteile aufwies: Man benötigte hohe Dosen, und das Mittel musste gespritzt werden. Das war noch weit weg von einer Pille, die frau »wie ein Aspirin« nehmen konnte. Pincus wiederholte zunächst die bekannten Versuche, mit Progesteron den Eisprung bei Kaninchen zu hemmen. Das gelang. Auf einer Fachtagung erfuhr Pincus, dass der Gynäkologe John Rock mit neuen, »künstlichen« Progesteronabkömmlingen experimentierte (eben mit den von Djerassi und seinem Konkurrenten F. B. Colton bei der Firma Searle hergestellten Substanzen). Diese neuen Stoffe konnten als Tabletten eingenommen werden; die Dosen waren viel niedriger. Also plante wohl Dr. Rock die Pille? Weit gefehlt. Dem Gynäkologen ging es eher ums Gegenteil; er suchte nach einem Medikament, mit dem er weibliche Unfruchtbarkeit behandeln konnte. Wie das? Rock hatte die Idee, dass sich während einer Art »Scheinschwangerschaft« die Organe unfruchtbarer Frauen erholen und danach mit größerer Fruchtbarkeit »zurückschnellen« werde. Dieser Rebound-Effekt trat bei dreizehn von achtzig Frauen tatsächlich ein, die er mit hohen Dosen Progesteron behandelt hatte.
Djerassis neue Derivate konnten als Pillen genommen werden. Zuvor mussten sie aber klinischen Tests unterzogen werden. Nur – wie? In Massachusetts zum Beispiel durfte man zwar Verhütungsmittel verwenden, laut Gesetzestext nicht aber »solche ausstellen, verkaufen, verschreiben, weitergeben oder Informationen darüber verbreiten«, auf Übertretungen stand Gefängnis. Schon deshalb mussten Feldversuche außerhalb der USA stattfinden: in Puerto Rico, wo die Empfängnisverhütung seit 1937 gesetzlich erlaubt war. Vorversuche hatte Dr. John Rock unternommen; besonders merkwürdig, galt er doch als einer der katholischsten Ärzte in den Vereinigten Staaten. Aber in Sachen Geburtenkontrolle hatte er eine dezidiert andere Ansicht als die katholische Kirche und verwendete seinen ganzen Einfluss darauf, die Amtskirche zur Anerkennung der Pille zu bewegen, die seiner Ansicht nach nur eine Frage der Zeit sein konnte. Als Papst Paul VI. im Jahre 1968 mit seiner berühmt-berüchtigten Enzyklika Humanae vitae die Pille rundheraus ablehnte, war John Rock tief enttäuscht. Er starb erst 1984, über neunzig Jahre alt, die Pille zu testen hatte er erst mit über siebzig begonnen.
Die großen amerikanischen Chemiefirmen rissen sich nicht darum, die Pille auf den Markt zu bringen. Es herrschte die Angst, vom Boykott einer entrüsteten Öffentlichkeit ruiniert zu werden. Die Firma Searle wagte es dann mit Zaudern und Zagen, ein Medikament, das schon zur Behandlung von Zyklusstörungen zugelassen war, bei der zuständigen Behörde auch als Verhütungsmittel einzureichen. Der Mut hat sich gelohnt: Die Aktie des Unternehmens stieg in vierzig Jahren von zwei auf achttausend Dollar; die Dividende allein in den sechs Jahren von 1960 bis 1966 von drei Cent auf drei Dollar. Unter dem Label Zyklusstörungen begann die Pille auch außerhalb der USA ihren Siegeszug, in Japan, wo
Weitere Kostenlose Bücher