Von Alkohol bis Zucker - 12 Substanzen die die Welt veränderten
Abblasevorrichtungen versehen. Am 22. April 1915 war es so weit. Der Wind kam aus der richtigen Richtung, die Ventile wurden geöffnet, eine sechs Kilometer breite und bis zu neunhundert Meter tiefe gelbgrüne Chlorwolke wälzte sich auf die französischen Stellungen zu. Gleich darauf griffen die Deutschen an, Mund und Nase unter Mullbinden, die mit einer Thiosulfatlösung getränkt waren. Das machte das Chlor unwirksam.
Die Aktion war ein »Erfolg«, ein Geländegewinn konnte erreicht werden, nur hatte das Oberkommando versäumt, genug Reserven bereitzustellen, um durch die Lücke weiter vorzustoßen; man glaubte höheren Ortes ohnehin nicht recht an diese »chemische Kriegführung« – zumindest ein Einwand lässt sich dabei nicht preußischer Offiziersarroganz zuordnen: Wie will ich denn in einer Weltgegend, die geografisch-meteorologisch die Westwindzone heißt, ein Kampfmittel einsetzen, das nur bei Ostwind funktioniert, weil eben der Gegner im Westen steht? Wird nicht dieser Gegner die Gunst der normalen Westwetterlagen nutzen und seinerseits die deutschen Stellungen begasen, nur viel öfter, weil der Wind passt? Diese Bedenken wurden in den Wind geschlagen, die Franzosen, hieß es von Seiten der Wissenschaft, seien gar nicht in der Lage, Kampfstoffe im großen Stil herzustellen. Das könnte man nun wieder deutscher Chemikerarroganz und Großmannssucht zuschreiben, sie erklärt sich aber zum Teil aus dem Faktum, dass vor dem Ersten Weltkrieg 85 Prozent aller Chemieprodukte der ganzen Welt in Deutschland hergestellt wurden; da dachte Haber wohl: Wer, wenn nicht wir, wann, wenn nicht jetzt? Die angenommene Unfähigkeit der Alliierten zur chemischen Kriegführung erwies sich sehr bald als Irrtum …
Der weitere Verlauf interessiert nur am Rande. Es kam zur wohlbekannten Rüstungsspirale: giftigere Kampfstoffe, bessere Gasmasken, noch wirksamere Stoffe und so weiter. Im Ersten Weltkrieg wurden 113000 Tonnen Kampfstoffe eingesetzt und damit 90000 Menschen getötet, etwa 1 Million verletzt. Angesichts von 10 Millionen Toten und 25 Millionen Verletzten sind das 0,9 Prozent der Toten und 4 Prozent der Verletzten durch Gas; diese Zahlen ließen Fritz Haber später das Gas als eine geradezu humane Form der Kriegführung bezeichnen; und er ist nie von der Überzeugung abgerückt, dass es als deutscher Patriot und Chemiker geradezu seine Pflicht war, alles in seiner Macht Stehende zu tun, den deutschen Waffen zum Sieg zu verhelfen. »Im Frieden gehört der Wissenschaftler der Menschheit, im Kriege aber nur dem Vaterland.«
Der chemische Kampfstoff war gedacht als eine jener Wunderwaffen, die in der Militärgeschichte ab und zu auftauchen, einen totalen Sieg und schnelle Beendigung des Krieges versprechen. Gehalten werden solche Versprechungen nur selten; die bis zum 20. Jahrhundert einzig wirksame chemische Wunderwaffe war das »griechische Feuer«, eine Art Flammenwerfer, mit dem die Byzantiner sich jahrhundertelang alle Angreifer zur See vom Leibe hielten. Es erfüllte nämlich die notwendige Bedingung einer solchen Waffe: Der Gegner wusste nicht, wie sie funktioniert. Das war im Gaskrieg nicht der Fall.
Habers Frau Clara hat die Gasbemühungen ihres Mannes entschieden abgelehnt. Sie hat sich wenige Tage nach dem ersten Chlorangriff mit der Dienstwaffe ihres Mannes erschossen. Haber wurde vom Kaiser höchstpersönlich befördert: vom Vizewachtmeister gleich zum Hauptmann … Wenn man so etwas in einen Roman hineinschreibt, glaubt es keiner, ein verkitschtes Melodram, ganz schlechte Literatur! Es kommt aber noch besser: Die political correctness war noch nicht erfunden, deshalb erhielt Haber 1918 den Chemienobelpreis für seine Ammoniaksynthese; Engländer, Franzosen und Amerikaner waren empört, dass der Erfinder und Promotor des Gaskriegs ausgezeichnet wurde. Von aktueller Bedeutung ist der letzte Absatz seiner Nobelpreisrede:
»Es mag sein, dass diese Lösung nicht die Endgültige ist. Die Stickstoffbakterien lehren uns, dass die Natur mit ihren erlesenen Formen der Chemie lebender Materie schon lange Methoden entwickelt und benutzt hat, von denen wir bisher noch nicht wissen, wie man sie nachahmen kann. Lassen Sie uns zufrieden sein, dass inzwischen die verbesserte Stickstoffdüngung des Bodens der Menschheit neue Nahrungsreichtümer gebracht hat und dass die chemische Industrie dem Bauern zu Hilfe kommt, der in der guten Erde Steine zu Brot macht.«
Haber bezieht sich hier auf die sogenannten
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