Von den Sternen gekuesst
ja«, sagte Georgia, die noch immer ihre Nase massierte, nun mit geschlossenen Augen. »Wir beide schleichen uns also weg …«
»Nein, Mamie ist gar nicht da. Wir legen ihr einfach einen Zettel hin – mit dem Hinweis, dass wir nur kurz unterwegs sind.«
Sie ließ ihre Nase los und starrte mich an. »Wir legen ihr einen Zettel hin, auf dem steht, dass ihre beiden Enkelinnen, die gestern bereits in eine Auseinandersetzung zwischen übernatürlichen Wesen geraten sind, bei der die eine sich mehrere Verletzungen zugezogen und die andere ihren Freund verloren hat, nur kurz unterwegs sind, um …?«
»… einen Heiler aufzusuchen, der einem alten Sehergeschlecht angehört und vielleicht weiß, wie ich den Geist meines toten Freundes beschützen kann.«
Georgias Mundwinkel bogen sich nach oben. »Gut, bin dabei.« Sie sprang aus dem Bett und suchte sich was zum Anziehen. »Was sagen wir, wenn wir ihr im Hausflur begegnen?«, fragte sie durch das T-Shirt, in das sie gerade ihren Kopf gesteckt hatte. Ich zuckte zusammen, als ich sah, wie blau ihre Rippen an den Stellen waren, wo Violettes Tritte sie getroffen hatten. Ihr Gesicht war zwar in einem weitaus schlimmeren Zustand, doch Georgia ignorierte beides und grinste mich an.
»Dass wir Brot holen«, sagte ich trocken.
»Die einzige Ausrede, die ein Franzose niemals anzweifeln würde. Baguette oder Tod!«, rief Georgia und schon rannten wir los.
Wir waren bereits am anderen Ende der Stadt, als mir auffiel, dass ich mein Handy zu Hause vergessen hatte. »Aber ich hab doch meins dabei«, sagte Georgia und tätschelte ihre Manteltasche.
»Es geht mir auch mehr darum, dass Ambrose sich bei mir melden wollte, falls es was Neues gibt.« Angst schnürte mir für einen Moment die Luft ab. Der heutige Tag war nicht gerade der optimale Zeitpunkt, um nicht erreichbar zu sein. »Dann ruf ihn an«, bot Georgia an und hielt mir ihr Telefon hin.
»Nein, schon gut. Außerdem sind wir da.« Ich zeigte auf die unbeleuchtete Front des Le Corbeau.
Zweifelnd betrachtete Georgia das alte hölzerne Schild mit dem Raben, das von der winterlichen Brise vor und zurück geschaukelt wurde. »Bist du sicher, dass dieser Laden jemals geöffnet hatte? Sieht aus wie ein Relikt aus dem Mittelalter«, sagte Georgia und schlang ihren Mantel enger um sich.
Obwohl ganz offensichtlich niemand im Laden war, klopfte ich an die Scheibe der Eingangstür.
»Ist das da ein riesiger Zahn?«, fragte Georgia, die vorgebeugt am Schaufenster stand.
»Das ist sicher irgendeine Reliquie. Vermutlich der Fingerknochen von einem Heiligen oder so was«, antwortete ich und drückte die Türklinke runter. Zu meiner Überraschung ging die Tür auf. »Es ist gar nicht abgeschlossen!«, rief ich und ging hinein.
»Wieso auch?« Georgia war mir gefolgt. »Wer würde denn einen ›Rosenkranz aus böhmischem Kristall mit einem Splitter vom Kreuze Jesu aus dem achtzehnten Jahrhundert‹ klauen?«, fragte sie, das Preisschild vorlesend. Schon ließ sie den Perlenkranz wieder achtlos in die Auslage fallen. »Merkwürdiger Kram. Außerdem könnte hier mal geputzt werden. Von dem ganzen Staub kriegt man ja Asthma.«
Wir stießen tiefer in den dunklen Ladenraum vor, quetschten uns durch die schmalen Lücken zwischen hüfthohen antiken Heiligenstatuen, denen Messer im Kopf steckten, und drückten uns an Vitrinen vorbei, in denen Papstartikel standen, die im Dunkeln leuchten konnten. Das Parkett knarrte unter meinen Füßen und wie zur Antwort drang ein Pochen durch den Fußboden zu uns hinauf. »Psst!«, machte ich. »Hast du das gehört?«
»Mein Gott«, flüsterte Georgia, die Augen vor Schreck weit aufgerissen. »Hier gibt’s ein Verließ.«
Da war das Pochen wieder: Unmittelbar unter uns wurde dreimal in regelmäßigen Abständen gegen den Fußboden geklopft. Es klang wie Morsezeichen von jemandem, der Hilfe brauchte. Da kam nur einer infrage.
»Schnell!« Ich rannte zu der Tür, die zur dahintergelegenen Wendeltreppe führte. Doch statt zur Wohnung im ersten Stock zu gehen, wo ich Gwenhaël getroffen hatte, liefen wir abwärts bis vor eine verrostete Tür, die mit einem Ächzen nachgab und sich schleifend öffnete, als ich mit der Hüfte nachhalf.
Schwungvoll flog ich in einen Lagerraum mit niedriger Decke, wo mich ein schimmelig feuchter Geruch empfing. Der hintere Teil war mit Maschendraht abgetrennt. Ein Vorhängeschloss sicherte eine Tür, hinter der stapelweise Kisten und Kartons standen – wahrscheinlich
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