Von den Sternen gekuesst
Weile und nicke zur Île Saint-Louis, die direkt vor uns in der Mitte der Seine thront.
Der kleine, von Bäumen umgebene Platz, auf dem wir vergangenen Sommer gesessen und uns unterhalten haben, ragt ins Wasser und teilt die Seine in zwei Flüsse, die sie auf beiden Seiten umspülen. Zwei parallele Ströme, die sich erst an der Spitze der Île de la Cité wieder vollkommen zu einem Fluss vereinen.
Ich bleibe stehen und Vincent betrachtet mich aufmerksam, ungefähr hundert Fragen stehen ihm ins Gesicht geschrieben. »Magst du mir sagen, worüber du gerade nachdenkst?«, frage ich.
Er lässt den Blick über die Seine streifen. »Ich hatte wahnsinnig große Angst, als du da mit Violette in der Arena standst«, sagt er mit einem leichten Beben in der Stimme. »Als sie den Dolch nach dir warf, hatte ich das Gefühl, er trifft mich. Ich wollte dich beschützen. Und dann habe ich das erste Mal wirklich begriffen, dass du, selbst wenn du sterben solltest, wiederkommen würdest. Solange ich dafür sorgte, dass dein Leichnam nicht auf dem Feuer landete. Du bist jetzt eine von uns. Es war wie eine Offenbarung.«
»Aber du hast das doch schon ein paar Tage gewusst«, sage ich.
»Ja, es war nur noch nicht richtig angekommen. Erst als ich dich da gesehen habe, im Angesicht des Todes.«
»Und diese Erkenntnis ändert etwas an deinen Gefühlen?«
»Ja.«
Eine fürchterliche Ahnung lässt auch mich den Blick auf die Wasseroberfläche senken. »Wird das ein Problem für uns?«
»Nein, Kate, du hast mich nicht richtig verstanden«, sagt Vincent und legt mir vorsichtig die Hände auf die Schultern. »Meine Gefühle für dich haben sich nicht geändert, sondern alles andere. Wie gesagt, ich habe dir das nie gewünscht. Ich möchte nicht, dass du die Last des Daseins als Revenant tragen musst. Dass du all den Tücken ausgesetzt bist, die dieses Schicksal mit sich bringt. Der Sucht, der Besessenheit, den Schmerzen bei Verletzungen und den vielen Toten.«
Er streift mir eine Strähne hinters Ohr, die meinem Pferdeschwanz entkommen ist. »Aber was ich möchte, ist ja völlig belanglos, es ist nun mal dein Schicksal. Jetzt hab ich dich hier vor mir, du bist eine von uns, und da wir – dank dir – auf dem besten Wege sind, unsere Widersacher zu vernichten, steht uns und unserem Glück nichts mehr im Wege.
Damit wird mein größter Wunsch erfüllt und ich weiß gerade nicht, was ich machen soll. Ich habe Angst davor, wirklich daran zu glauben, und rechne fast damit, dass mich jemand packt und schüttelt und doch alles nur ein Traum war.«
»Es ist kein Traum. Ich bin wirklich hier«, sage ich. »Und es sieht ganz so aus, als würde das auch eine ganz schöne Weile lang so bleiben.«
Über Vincents Schulter sehe ich, dass eine orangefarbene Kugel den Horizont zum Glühen bringt. Ich mache einen Schritt auf ihn zu und noch einen, bis nichts mehr zwischen uns liegt und mein Brustkorb sich an seinen presst.
Als wir uns küssen, löst sich die Sonne vom Horizont und taucht den Fluss in feuerrotes Licht, die Wellen leuchten flammend rot in den ersten Sonnenstrahlen des Tages.
Das Leben ändert sich so schnell. Vor nicht allzu langer Zeit trauerte ich noch heftig um meine Eltern und fragte mich, ob ich den vor mir liegenden Tag überhaupt überstehen würde. Nun wurde mir das Los der Unsterblichkeit gereicht. Nicht gerade auf einem Silbertablett, eher auf einem Weg, der gesäumt wird von Qualen und Blutvergießen.
Doch ich werde diesen Weg nicht allein beschreiten, sondern mit meinen Anverwandten. Mit dem Jungen, den ich liebe. Zusammen werden wir etwas Gutes und Würdiges leisten. Wir werden uns opfern, damit andere leben können. Wieder und wieder.
Ich kenne noch nicht jede Antwort auf alle Fragen, die vor mir liegen. Aber Vincent und ich haben genug Zeit, sie zu finden. Alle Zeit der Welt.
Geboren wurde Amy Plum in Birmingham, Alabama. Schon bald lockten sie große Städte wie Paris oder London hinaus in die Welt. Eine Zeit lang arbeitete sie als Kunsthistorikerin in New York, bevor sie schließlich mit ihrem Ehemann ein großes Bauernhaus in der französischen Provinz bezog. Wann immer es die turbulenten Tage mit ihren beiden Kindern und ihrem Hund Ella erlauben, sitzt Amy Plum in dem kleinen alten Steinhäuschen in ihrem Garten und schreibt an ihren Romanen.
© für die deutschsprachige Ausgabe: Loewe Verlag GmbH, Bindlach 2014
Die Originalausgabe ist 2013 bei HarperTeen, einem Imprint von Harper
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