Von der Nacht verzaubert
mich.«
Sie hat Familie, dachte ich und fragte mich, warum mich das überraschte. Auch sie schien ihre Zeit unter Lebenden und Toten aufzuteilen. Zum ersten Mal fühlte ich mich mit ihr verbunden.
Sie stellte den Kaffee und ein Milchkännchen auf den Tisch und setzte sich zu mir. »Also, was kann ich dir über Vincent erzählen?«, grübelte sie. »Ich war sechzehn, als ich meine Mutter das erste Mal begleitet habe, um ihr zu helfen. Damals kümmerte ich mich ums Waschen und Bügeln. Das war vor«, sie rechnete kurz lautlos, »neununddreißig Jahren.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und kniff die Augen zusammen, als könnte sie so besser in die Vergangenheit zurückblicken. »Vincent war derselbe wie heute. Plus minus ein Jahr. Und sie passen sich ja immer alle der gerade herrschenden Mode an, damit sie nicht auffallen. Seine Haare waren etwas länger als jetzt. Oh, was fand ich ihn damals umwerfend.«
Sie beugte sich zu mir mit einem Glitzern in den Augen. »Finde ich übrigens immer noch. Obwohl er noch ein Jugendlicher ist und ich mittlerweile vierfache Großmutter.« Sie lehnte sich wieder zurück und lächelte gedankenverloren.
»Damals gab es noch mehr Revenants. Sie lebten über ganz Paris verteilt, in Häusern, die Jean-Baptistes Familie gehörten. Weil es nun nicht mehr so viele Revenants in Paris gibt, vermietet er die Häuser. Allein durch seine Immobilien verdient er ein Vermögen.«
Sie seufzte und blieb einen Moment lang still. »Jedenfalls kenne ich Vincent seit den 1970ern. Er war immer ein sehr schwermütiger Junge. Ich vermute, er hat dir mittlerweile von Hélène erzählt?«
Ich nickte und sie fuhr fort: »Nach ihrem — und natürlich seinem eigenen — Tod hat er sich emotional verschlossen und keine Gefühle mehr zugelassen. Nachdem Jean-Baptiste ihn gefunden hatte, übernahm er die Rolle eines Fußsoldaten. Nichts war ihm zu gefährlich, er suchte die Gefahr förmlich. So als könne er dadurch, dass er Hunderten Fremden das Leben rettete, wiedergutmachen, dass er diesen einen Menschen nicht hatte retten können. Und so ging es immer weiter. Er war wie ein Racheengel. Ein wunderschöner Racheengel, natürlich, aber dennoch ...«
Sie blinzelte und sah mich dann eindringlich an: »Vor ein paar Monaten kam er dann auf einmal mit diesem Funkeln in den Augen nach Hause. Ich konnte mir nicht vorstellen, was wohl passiert war. Aber wie sich herausstellte, lag das an dir.« Jeanne lehnte sich wieder zu mir und streichelte mir lächelnd mit ihrer Hand über die Wange.
»Du schönes Kind. Du hast meinem Vincent neues Leben eingehaucht. Er mag ja entschlossen und mutig sein, aber er hat eine sehr zarte Seele. Und du hast etwas in ihm berührt. Seit ich ihn kenne, war sein Antrieb immer die Rache und Pflichttreue gewesen. Vielleicht gehört er deshalb zu den wenigen Überlebenden. Und jetzt hat er ...« Sie zögerte, überlegte sich gut, was sie als Nächstes sagen wollte und entschied sich für: »... dich.«
Sie lächelte mitfühlend. »Das wird sicher keine leichte Beziehung für dich, Kate. Aber halte durch. Er ist es wert.«
Jeanne hängte ihre Schürze über den Griff an der Ofentür, gab mir einen Kuss auf die Wange und schnappte sich ihre Sachen. »Ich bring dich noch zur Tür«, schlug ich ihr vor. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich dann in diesem riesigen Haus allein sein würde — die einzige Gesellschaft bestand aus einem hundertfünfzigjährigen Revenant und der Leiche meines Freundes.
»Kommst du allein klar?«, fragte Jeanne.
»Ja«, log ich. »Kein Problem.« Wir steuerten auf den Granitbrunnen zu, der in der Mitte des Hofs stand. Ich setzte mich auf den Rand und winkte Jeanne hinterher, die durch das vordere Tor auf die Straße verschwand. Es schloss sich leise hinter ihr. Ich schaute zu der Statue hinauf, dem Engel, der eine Frau trug.
Als ich sie das erste Mal gesehen hatte, wusste ich noch nicht, wer Vincent tatsächlich war. Damals hatte ich noch nie von Revenants gehört — weder von den blutrünstigen noch denen, die ihr ewiges Leben der Rettung der Menschheit verschrieben haben. Doch schon damals hatte ich den Brunnen als wahnsinnig unheimlich empfunden.
Während ich nun die himmlische Schönheit der beiden miteinander verbundenen Körper auf mich wirken ließ, stach mir die Symbolik der Skulptur förmlich ins Auge. Der gut aussehende Engel hielt eine Frau in seinen ausgestreckten Armen und wandte ihr sein Antlitz zu. Seine Züge wirkten hart und dunkel,
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