Von der Nacht verzaubert
Ecken pinkelten. Verrückte, die sich über die Verfolgung durch die Regierung ausließen. Scharen von Kindern, die Touristen anboten, ihnen das Gepäck zu tragen und dann damit abhauten. Aber ich hatte noch nie einen Erwachsenen gesehen, der in der Öffentlichkeit weinte.
Ein stärker werdender Windstoß kündigte die herannahende U-Bahn an. Der Mann blickte auf. Seelenruhig stellte er seine Aktentasche ab, hockte sich hin, stützte sich mit einer Hand auf der Plattform ab und sprang dann auf die Gleise. »Oh, mein Gott!«, schrie ich und ließ vor Schreck meinen Crêpe fallen. Verzweifelt blickte ich mich um, ob noch jemand anders das Szenario beobachtet hatte.
Jules und Vincent schauten zu mir, würdigten den Mann auf den Schienen jedoch keines Blickes, während ich von meinem Sitz aufgesprungen war und wie wild mit beiden Händen gestikulierte. Ohne ein Wort zu wechseln, nickten sie einander zu und liefen dann rasch in entgegengesetzte Richtungen. Vincent kam zu mir, fasste mich bei den Schultern und versuchte, mich von den Gleisen abzuschirmen.
Ich wehrte mich, verrenkte meinen Hals, um nach Jules zu sehen, der in diesem Moment auf die Schienen sprang und den schluchzenden Mann aus dem Weg schob. Der einfahrende Zug war nur noch ein paar Meter entfernt, als Jules Vincent einen Blick zuwarf, kurz nickte und sich dann mit dem Zeigefinger an die Stirn tippte, wie um ihn lässig zu grüßen.
Das Geräusch war entsetzlich. Das ohrenbetäubende Kreischen der Bremsen, die das Unglück nicht mehr abwenden konnten, und dann der dumpfe Aufprall, als Metall auf Fleisch und Knochen traf. Vincent hatte verhindert, dass ich den Zusammenstoß sah, aber das Bild der vorletzten Sekunde hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt: Jules’ gelassener Gesichtsausdruck, wie er Vincent zunickt, während die Bahn hinter ihm heranrast.
Meine Knie gaben nach und ich kippte nach vorn, Vincents Arme hielten mich, sodass ich nicht hinfiel. Schreie kamen von allen Seiten und man hörte vom Gleis her das laute Jammern eines Mannes. Ich spürte, wie mich jemand hochhob und anfing zu laufen. Und dann wurde alles still. Still und dunkel wie in einer Gruft.
A ls ich wieder zu mir kam, roch es nach starkem Kaffee und ich hob den Kopf von meinen Beinen. Ich saß auf dem Bürgersteig, mit dem Rücken an eine Hauswand gelehnt. Vincent hockte vor mir und wedelte mit einer winzigen Tasse voll dampfendem Espresso vor meinem Gesicht herum, als wäre es ein Fläschchen Riechsalz.
»Vincent«, sagte ich, ohne nachzudenken. Sein Name kam ganz von selbst über meine Lippen, als hätte ich ihn schon mein Leben lang ausgesprochen.
»Du bist mir also gefolgt«, sagte er und schaute mich ernst an.
Ein wahnsinniger Kopfschmerz breitete sich pochend vom Nacken her aus und alles drehte sich plötzlich vor meinen Augen. »Au«, stöhnte ich und massierte meinen Nacken.
»Trink das und steck deinen Kopf dann wieder zwischen die Beine«, wies Vincent mich an. Er setzte mir die Tasse an die Lippen und ich trank sie in einem Zug aus.
»Gut. Ich bring nur schnell die Tasse zurück ins Café. Bleib einfach hier sitzen, ich bin gleich wieder da«, sagte er. Ich schloss die Augen.
Ich hätte nicht mal aufstehen können, wenn ich gewollt hätte. Ich hatte kein Gefühl in den Beinen. Was ist passiert? Wie bin ich hierhergekommen? Dann kam plötzlich die Erinnerung zurück und das Bild dieses Horrorszenarios traf mich wie ein Schlag.
»Meinst du, du kannst Taxi fahren?« Vincent war wieder da und hockte sich vor mich, damit er auf Augenhöhe war. »Du hast einen ziemlichen Schock.«
»Aber ... dein Freund! Jules!«, sagte ich ungläubig.
»Ja, ich weiß.« Er legte die Stirn in Falten. »Aber da können wir gerade nichts machen. Das Wichtigste ist, dich von hier wegzubringen.« Er stand auf und winkte ein Taxi heran. Dann half er mir auf die Füße, legte mir seinen Arm um die Schultern, hob meine Tasche auf und führte mich zu dem wartenden Wagen.
Vincent half mir beim Einsteigen und während er sich selbst setzte, nannte er dem Fahrer eine Adresse, die nicht weit entfernt von meinem Zuhause war.
»Wohin fahren wir?«, fragte ich, plötzlich besorgt. Mein Verstand meldete warnend, dass ich mit jemandem in einem Taxi saß, der nicht nur gerade gesehen hatte, wie sein Freund von einem Zug überrollt worden war, sondern noch dazu so gefasst blieb, als würde ihm das jeden Tag passieren.
»Ich könnte dich bei dir absetzen, aber ich nehm dich lieber mit zu
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