Von der Nacht verzaubert
mir, bis du dich beruhigt hast. Ich wohne nur ein paar Straßen weiter.«
Vermutlich kann ich mich bei mir zu Hause wesentlich schneller und besser beruhigen als bei dir. Doch noch bevor ich diesen Gedanken laut aussprechen konnte, wurde mir bewusst, was er da gerade gesagt hatte. »Du weißt, wo ich wohne?«, stieß ich hervor.
»Ich hab doch schon einmal gestanden, dass ich die neuen Importe aus Amerika ein wenig ausspioniert habe. Weißt du das nicht mehr?« Er schenkte mir ein entwaffnendes Lächeln. »Und mal ganz davon abgesehen: Wer bitte schön ist heute wem in die Metro gefolgt?«
Ich wurde rot bei dem Gedanken daran, wie oft er mich wohl schon ohne mein Wissen beobachtet hatte.
Dann erschien wieder das Bild von Jules auf den Gleisen vor meinem geistigen Auge und ich fing unwillkürlich an zu zittern. »Nicht nachdenken. Einfach nicht nachdenken«, flüsterte Vincent. Meine Gefühle waren absolut widersprüchlich. Einerseits war ich erschrocken und verstört angesichts der Tatsache, dass Jules’ Tod Vincent so kalt ließ. Gleichzeitig wünschte ich mir nichts mehr, als von ihm getröstet zu werden.
Seine Hand lag auf seinem Knie und ich hatte das starke Bedürfnis, sie zu nehmen und an meine kalte Wange zu pressen. Mich an ihm festzuhalten, um mich vor der Welle aus Angst zu retten, die mich wieder mitzureißen drohte. Jules’ Schicksal erinnerte mich viel zu sehr an den Unfall meiner Eltern. Der Tod war mir über den Atlantik gefolgt. Er hing in meinem Windschatten und drohte, mir jeden zu nehmen, den ich kannte.
Als hätte Vincent meine Gedanken erraten, schob er seine Hand zu mir und griff nach meiner, die ich zwischen die Beine geklemmt hatte. Er faltete unsere Hände ineinander. Sofort umfing mich ein Gefühl von Sicherheit. Ich ließ meinen Kopf gegen das Sitzpolster sinken und schloss für den Rest der Fahrt die Augen.
Das Taxi blieb vor einem gewaltigen Eisentor stehen, an das links und rechts eine sicher drei Meter hohe Steinmauer anschloss. An die Gitterstäbe waren schwarze, geschmackvolle Stahlplatten angebracht worden, die einen daran hinderten, neugierige Blicke auf das Grundstück zu werfen. Blauregen rankte über die Mauer, dahinter ließen sich ein paar imposante Bäume ausmachen.
Vincent bezahlte den Taxifahrer, kam dann um den Wagen herum und öffnete mir die Tür. Dann warteten wir vor einer Säule, in der sich eine Videoüberwachungsanlage befand.
Das Schloss klickte, nachdem er den Türcode eingetippt hatte. Mit der einen Hand presste er das Tor auf, mit der anderen zog er mich sanft hinter sich her. Mir blieb der Mund offen stehen, als ich mich umsah.
Wir hatten den Innenhof eines hôtel particulier betreten, also eines dieser Stadtschlösser, wie sie sich reiche Pariser im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert hatten errichten lassen. Dieses hier war aus gewaltigen honigfarbenen Steinen gebaut, die in einem schwarzen Schieferdach gipfelten, das über die gesamte Breite in regelmäßigen Abständen Mansardenfenster aufwies. Das einzige Mal, dass ich so ein Gebäude von Nahem hatte betrachten können, war, als Mama und Mamie mich auf eine geführte Tour mitgenommen hatten.
In der Mitte stand ein runder Brunnen aus Granit, dessen graues Wasserbecken so groß war, dass mehrere Armzüge nötig gewesen wären, um einmal hindurchzuschwimmen. Über dem sprudelnden Wasser thronte ein lebensgroßer Engel aus Stein, der eine schlafende Frau in seinen Armen hielt. Ihr Körper zeichnete sich unter ihrem Kleid ab; dem Skulpteur war es gelungen, den schweren Stein in feinste Seide zu verwandeln. Die zerbrechliche Schönheit der Frau bildete einen klaren Kontrast zur Stärke des männlichen Engels, der sie trug, und dessen wuchtige Flügel sich schützend über die beiden Figuren wölbten. Die Statue vereinte symbolisch Schönheit und Gefahr und sie verbreitete eine unheimliche Stimmung im ganzen Innenhof.
»Hier wohnst du?«
»Ja, hier wohne ich, aber das Haus gehört mir nicht«, antwortete Vincent, der mich quer über das Kopfsteinpflaster zur Eingangstür führte. »Gehen wir erst mal rein.«
Schlagartig fiel mir wieder ein, warum wir hier waren. Das Geräusch, wie Jules von einer Tonne Metall überfahren wurde, hallte in meinen Ohren nach. Die Tränen, die ich bisher zurückgehalten hatte, fingen an zu laufen.
Vincent öffnete eine verzierte Holztür, hinter der uns eine riesige Empfangshalle erwartete. Zu beiden Seiten wand sich eine Treppe hinauf und mündete in einen
Weitere Kostenlose Bücher