Von der Nacht verzaubert
Limonade und kramte dann eine Taschenbuchausgabe von Zeit der Unschuld hervor. Es war eines der Bücher, die ich bis zum Schulanfang im September gelesen haben musste. Umgeben vom Geruch starken Kaffees, versank ich in der Welt des Romans.
»Noch eine Limonade?« Eine französische Stimme schwebte durch meine Gedanken und riss mich abrupt aus den Straßen eines New York des neunzehnten Jahrhunderts zurück in ein Pariser Café. Ein Kellner stand neben mir, hielt ein rundes Tablett über seiner Schulter und sah aus wie ein verstimmter Grashüpfer.
»Oh, natürlich. Ähm ... Obwohl, diesmal lieber einen Tee«, sagte ich. Seine Nachfrage konnte nur bedeuten, dass ich schon eine Stunde lang gelesen haben musste. In französischen Cafés gilt eine unausgesprochene Regel: Man kann so lange an einem Tisch sitzen bleiben, wie man will, wenn man nur jede Stunde ein Getränk bestellt. Man mietet sozusagen seinen Tisch.
Ich ließ meinen Blick kurz über die Terrasse gleiten, bevor ich mich wieder meinem Buch widmete. Wenig später schaute ich aber noch einmal auf, weil ich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Als ich den Kopf hob, sah ich einen jungen Typen, der mich anstarrte. Die Welt hörte auf sich zu drehen, als sich unsere Blicke trafen.
Mich beschlich das merkwürdige Gefühl, dass ich ihn kannte. Das ging mir manchmal bei Fremden so; dann fühlte es sich an, als hätte ich schon Stunden, Wochen oder sogar Jahre mit ihnen verbracht. Allerdings war das bisher immer ein sehr einseitiges Phänomen gewesen — in der Regel hatte mich mein Gegenüber noch nicht mal wahrgenommen.
Diesmal war es allerdings anders. Ich hätte schwören können, dass es ihm genauso ging wie mir.
So eindringlich, wie er mir in die Augen sah und meinen Blick festhielt, musste er mich schon eine ganze Weile angestarrt haben. Er sah atemberaubend aus, hatte ziemlich lange schwarze Haare, die sich von seiner breiten Stirn nach hinten wellten. Seine olivfarbene Haut legte die Schlussfolgerung nahe, dass er entweder viel Zeit in der Sonne verbrachte oder von einem sonnigen Ort stammte, der weiter südlich lag. Seine Augen waren so blau wie das Meer und von dichten schwarzen Wimpern umrandet. Mein Herz flatterte in meiner Brust und meine Lungen fühlten sich an, als hätte jemand sämtliche Luft herausgepresst. Ich konnte einfach nicht wegschauen.
Ein paar Sekunden vergingen, bevor er sich wieder an seine beiden Freunde wandte, die laut lachten. Alle drei waren jung, schön und hatten eine Wahnsinnsausstrahlung — kein Wunder also, dass die Besucherinnen im Café von ihnen fasziniert waren. Sofern den Jungs das bewusst war, ließen sie es sich nicht anmerken.
Der Typ, der neben ihm saß, war auffallend hübsch, groß wie ein Baum, hatte kurze Haare und schokoladenfarbene Haut. Während ich ihn musterte, sah er zu mir und grinste mich wissend an, so als würde er total verstehen, dass ich keine andere Wahl hatte, als ihn so anzustarren. Das riss mich aus meinem voyeuristischen Trancezustand und meine Augen fanden für ein paar Sekunden zurück zu meinem Buch. Als ich dann noch mal aufschaute, hatte er sich wieder abgewendet.
Der dritte saß mit dem Rücken zu mir. Er war drahtig, hatte einen leichten Sonnenbrand, Koteletten, lockige braune Haare und erzählte lebhaft etwas, über das seine beiden Begleiter sich offenbar wahnsinnig amüsierten.
Ich sah mir den ersten noch einmal genauer an. Obwohl er sicher ein paar Jahre älter war als ich, schätzte ich ihn auf unter zwanzig. Die Art, wie er lässig auf seinem Stuhl saß, war typisch französisch, doch etwas Kühles, Hartes umspielte seine Gesichtszüge und ließ eine Ahnung in mir aufsteigen, dass diese lässige Pose nur Fassade war. Er sah nicht bösartig aus. Er wirkte eher irgendwie ... gefährlich.
Obwohl er mich sehr neugierig machte, strich ich das Bild dieses schwarzhaarigen Fremden gleich wieder aus meinen Gedanken, weil ich mir sicher war, dass die Kombination aus perfektem Aussehen und Gefahr sicher Schwierigkeiten bedeutete. Ich nahm mein Buch zur Hand und schenkte meine volle Aufmerksamkeit nun wieder den vertrauenswürdigeren Reizen eines Newland Archer. Als der Kellner mit meinem Tee kam, konnte ich es mir jedoch nicht verkneifen, noch einmal zu dem anderen Tisch hinüberzuschauen. Dummerweise konnte ich mich irgendwie nicht mehr auf den Text konzentrieren.
Als die drei eine halbe Stunde später das Café verließen, zogen sie unwillkürlich die Blicke aller Frauen auf
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