Von der Nacht verzaubert
Jules trat auf mich zu, verbeugte sich wie ein Portier aus einem Merchant-Ivory-Film und legte meine Hand auf seinen Arm. »Wollen wir?« Ich musste lachen, ich konnte nicht anders. Er gab wirklich alles, um sein Verhalten vom Vortag wiedergutzumachen.
In der Eingangshalle nahm ich meine Tasche, die jemand wohl gestern dort hinterlegt hatte, und wollte gerade schon das Haus verlassen, als Jules sagte: »Hör mal, es tut mir sehr leid, dass ich so unhöflich zu dir war. In meinem Atelier und im Museum. Ich schwöre dir, das war nicht persönlich gemeint. Ich wollte dich und Vincent schützen. Und jeden Einzelnen von uns. Jetzt ist es ein bisschen spät für all das, aber ich hoffe, du nimmst meine Entschuldigung trotzdem an.«
»Ich kann dich voll und ganz verstehen«, pflichtete ich ihm bei. »Was hättest du denn sonst tun sollen?«
»Zum Glück, sie hat mir vergeben«, stieß er hervor und legte sich theatralisch die Hand auf die Brust. Sein Humor schimmerte langsam wieder durch. »Also gut. Und du kommst sicher allein klar?«, fragte er und machte einen Schritt auf mich zu, um mich genauer unter die Lupe zu nehmen — und das aus mehr als nur rein freundschaftlichem Interesse, wie mir schien. Offensichtlich sah er genau, wie ich sein Verhalten interpretierte, lächelte mich verführerisch an und hob herausfordernd eine Augenbraue.
»Ja, ganz sicher. Aber danke schön«, antwortete ich und lief rot an. Dann setzte ich mich in Bewegung.
»Vince kommt dich besuchen, sobald er kann«, rief er mir hinterher, steckte die Hände in die Hosentaschen und nickte zum Abschied.
Ich winkte ihm zu, überquerte den Innenhof und verließ das Gelände. Selbst auf der Straße wurde ich das Gefühl nicht los, dass das alles nur ein Traum war.
A n den weiteren Verlauf des Wochenendes erinnere ich mich kaum. Mein Körper war zwar irgendwie anwesend, aber mein Geist befand sich fast permanent in dem Haus in der Rue de Grenelle.
Ich wusste nicht, wann ich wieder etwas von Vincent hören würde. Montagmorgen, als Georgia und ich uns auf den Weg in die Schule machten, klebte ein Umschlag an unserer Haustür, auf dem in einer schönen, altmodischen Handschrift mein Name stand. Ich öffnete ihn und zog ein Stück hartes weißes Papier hervor, auf dem mit geschwungenen Buchstaben »Bald, V.« stand.
»Wer ist bitte schön V.?«, fragte Georgia mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Ach, so ein Typ.«
»Was für ein Typ?«, hakte sie nach, blieb abrupt stehen und griff nach meinem Arm. »Der Verbrecher?«
»Ja«, lachte ich, wand mich aus ihrer Umklammerung und schob sie vor mir her zur Metro. »Allerdings ist er kein Verbrecher. Er ist ...« Er ist ein Revenant, so eine Art untoter Monsterschutzengel, der durch Paris rennt und anderen Menschen das Leben rettet. »Er ist nur mit ein paar merkwürdigen Leuten befreundet.«
»Hm ... Ich glaube fast, den sollte ich mal unter die Lupe nehmen.«
»Untersteh dich, Georgia. Ich weiß ja noch nicht mal, ob ich mich weiter mit ihm treffen möchte. Das Letzte, was ich brauche, ist, dass du noch auf der Bildfläche auftauchst und die Sache verkomplizierst, bevor ich überhaupt weiß, ob ich ihn mag.«
»Oh, du magst ihn, keine Frage.«
»Ja, gut. Ich mag ihn. Ich mein ja nur. Bis ich entschieden habe, ob ich ihn Wiedersehen möchte.«
Sie sah mich skeptisch an.
»Ich kann’s dir nicht erklären, Georgia. Reden wir von was anderem. Ich verspreche dir aber, dass ich dir sofort erzähle, wenn sich was tut.«
Wir gingen ungefähr zwei Sekunden schweigend nebeneinander, bevor sie sagte: »Mach dir keine Sorgen, ich schnapp ihn dir schon nicht weg.«
Ich schlug mit meiner Tasche nach ihr, als wir die Stufen zur U-Bahn-Haltestelle runterliefen.
Vincent hatte gefragt, ob wir uns »in ein paar Tagen« sehen würden. Jetzt war Tag vier und ich fragte mich ernsthaft, ob ich ihn überhaupt jemals Wiedersehen würde. Vielleicht hatte er seine Meinung über mich geändert, als er wieder richtig zu Kräften gekommen war. Oder vielleicht hatte Jean-Baptiste ihn dazu gebracht, seine Meinung zu ändern. Ich klammerte mich gedanklich an die Nachricht, die er für mich hinterlassen hatte und hoffte, dass er bald auftauchen würde.
Die Schulglocke verkündete das Ende der letzten Stunde. Es war Dienstag, ich trat gerade durch das Schultor und war auf dem Weg zur Bushaltestelle, als ich jemand Vertrautes auf der anderen Straßenseite stehen sah und meine Schritte automatisch langsamer wurden. Es war
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