Von der Nacht verzaubert
lebensgroße Porträt eines jungen Mannes, den man von der Hüfte aufwärts gemalt hatte und der eine dunkelblaue Uniform trug, die sehr an Napoleons Zeiten erinnerte. Auf seinem Kopf ruhte ein gefiederter Helm. Das Modell war ganz offensichtlich Jean-Baptiste selbst.
»Meine Güte, die familiäre Ähnlichkeit ist aber bestechend«, sagte Mamie erstaunt. Sie blickte mehrmals vom Gemälde zu seinem Besitzer und zurück.
Er deutete auf einen kleinen Riss in der Leinwand, der sich auf Höhe der Stirn befand. »Hier ist die Stelle«, sagte er.
»Das ist ein klarer Schnitt, der lässt sich leicht reparieren. Da klebe ich hinten etwas drauf und muss wahrscheinlich vorne gar nichts ausbessern. Was hatten Sie gesagt, wie ist das passiert?«
»Das hatte ich noch nicht erwähnt. Mit einem Messer.«
»Oh«, rief Mamie überrascht.
»Kein Grund zur Sorge. Die Enkelkinder haben zu wild getobt. Jetzt haben sie Spielverbot im Arbeitszimmer«, erklärte er und sah mich dabei ruhig an.
»Gut, wenn Sie bitte einen Moment hier warten würden, ich habe meinen Quittungsblock unten in der Wohnung vergessen. Kate, würdest du Monsieur Grimod in der Zwischenzeit bitte einen Kaffee anbieten?« Sie nickte in die Richtung des kleinen Ecktischs, auf dem eine Thermoskanne stand, und lief dann eilig zur Tür hinaus, ohne sie hinter sich zu schließen.
Der schon etwas betagte Revenant und ich standen uns reglos gegenüber, bis wir hörten, dass der alte Aufzug sich in Bewegung setzte. Dann machte Jean-Baptiste einen Schritt auf mich zu.
»Was machen Sie hier?«
»Wir müssen uns unterhalten«, sagte er und sein gebieterischer Tonfall ging mir schon in diesem Moment wahnsinnig auf die Nerven. »Jules erzählte mir, dass Sie Charles gesehen haben. Hätten Sie vielleicht die Freundlichkeit, mir zu sagen, wo genau Sie ihm begegnet sind?«
Ich dachte, je eher ich ihm sagte, was er hören wollte, desto schneller würde er wieder verschwinden. »Er stand vor einem Klub, aus dem ich gerade kam, in der Nähe der Metrostation Oberkampf. Das war am Freitag, so gegen Mitternacht.«
»Wer hat ihn begleitet?« Auch wenn er äußerlich außerordentlich gelassen wirkte, verriet mir das Zucken seines Mundwinkels, dass irgendetwas nicht stimmte.
»Für mich sah es so aus, als wäre er allein dort. Warum?«
Er blickte kurz in Richtung Tür, als wolle er abwägen, wie viel Zeit ihm zum Reden blieb.
»Ich bin aus zwei Gründen hier.« Er sprach leise und schnell. »Zum einen wollte ich mich wegen Charles erkundigen. Er ist vor ein paar Tagen verschwunden, nachdem er ...«, er deutete kurz missbilligend mit einer Kopfbewegung auf sein Porträt, »seine Messerwurftechnik perfektioniert hat. Zum anderen wollte ich Ihrer Familie einen kleinen Besuch abstatten, um mir anzusehen, woher Sie stammen.«
Sofort flammte meine Wut wieder auf. »Wie bitte? Spionieren Sie mir nach? Was soll das heißen, woher ich stamme? Meinen Sie damit, ob meine Großeltern vermögend sind?« Ich schüttelte angewidert den Kopf. »Ja, sind sie, aber nicht so sehr wie Sie. Ich verstehe nicht, wieso das überhaupt von Bedeutung sein soll.« Ich ließ ihn stehen und ging auf die Tür zu.
»Warten Sie!«, befahl er — und ich parierte. »Auf Geld kommt es mir nicht an, sondern auf den Charakter. Ihre Großeltern sind ehrenwerte Menschen. Und sicher.«
»Ehrenwert genug, ein Gemälde zu restaurieren?«
»Nein, ehrenwert genug, dass ich sie einweihen könnte. Falls das je notwendig sein sollte.«
Als mir bewusst wurde, was er da gesagt hatte, richtete ich mich kerzengerade auf. Er spionierte meine Familie aus, um herauszufinden, ob ich für Vincent taugte. Es musste ihm entgangen sein, dass es aus war zwischen Vincent und mir. Ein für alle Mal. »Das wird nie notwendig werden. Machen Sie sich keine Sorgen, Monsieur Grimod, ich werde nicht wieder in Ihr geschätztes Zuhause eindringen.« Sehr zu meinem Entsetzen spürte ich, wie mir eine Träne die Wange hinunterlief. Ich wischte sie wütend fort.
Seine strengen Gesichtszüge wurden sanft. Er legte mir leicht seine Finger auf den Arm und sagte: »Aber, mein liebes Kind, Sie müssen zurückkommen. Vincent braucht Sie. Er ist untröstlich.«
Ich sah auf den Boden und schüttelte den Kopf.
Jean-Baptiste schob mir seine gepflegten Finger unters Kinn und hob meinen Kopf leicht an, bis unsere Blicke sich trafen. »Er ist dazu bereit, große Opfer für Sie zu bringen. Es ist selbstverständlich klar, dass Sie weder ihm noch uns
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