Von der Nacht verzaubert
Eingangshalle traten, schaute ich mir Vincent richtig an. Was ich sah, verschlug mir die Sprache. Er war total ausgemergelt, hatte abgenommen und unter seinen tiefliegenden Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. Das war mir im La Palette gar nicht aufgefallen, dort hatten mich wohl andere Dinge (wie eine umwerfend schöne, blonde Revenantfrau) beschäftigt. Doch nun, wo er so nah bei mir stand, war sein schlechter Gesundheitszustand nicht zu übersehen. »Oh, Vincent!«, stieß ich hervor und streckte meine Hand nach seiner Wange aus.
»Mir ging es nicht so gut«, erklärte er und griff nach meiner Hand, bevor sie sein Gesicht erreichte. Dann schob er unsere Hände ineinander. Diese Berührung reichte aus, dass alles in mir drin sich in eine einzige warme Masse verwandelte. »Gehen wir in mein Zimmer«, sagte er und schritt voran durch den Korridor zu seiner Tür, die offen stand.
Die Vorhänge waren aufgezogen. Vereinzelte Holzreste glühten noch im Kamin. Im Zimmer roch es ein bisschen nach Lagerfeuer. Ich blieb stehen und Vincent legte ein paar kleine Zweige nach, um das Feuer neu zu entfachen. Nachdem er auch ein paar Scheite hinzugefügt hatte, wandte er sich mir wieder zu.
»Ist dir kalt?«, fragte er.
»Ich weiß nicht, ob ich wirklich friere oder ob das nur meine Nerven sind«, erwiderte ich. Ich streckte meine Hand aus, um ihm zu zeigen, wie sie zitterte. Sofort nahm er mich fest in seine Arme. »Oh, Kate«, seufzte er und küsste mich auf den Kopf.
Er nahm mein Gesicht in seine Hände, dann strömte es nur so aus ihm heraus. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich in den letzten Wochen gequält habe. Ich habe versucht, aus deinem Leben zu verschwinden. Dich loszulassen. Ich wollte, dass du ein normales Leben führen kannst, ein sicheres, geschütztes Leben, und ich war schon fast davon überzeugt gewesen, das Richtige getan zu haben, bis ich bei dir vorbeigeschaut habe.«
»Du warst bei mir? Wann?«, fragte ich.
»Das erste Mal vor einer Woche. Ich wollte sicher sein, dass mit dir alles in Ordnung ist. Ich hab dich ein paar Tage lang beobachtet, aber es sah nicht so aus, als würde es dir besser gehen. Ehrlich gesagt sah es eher nach dem Gegenteil aus. Und als Charlotte dann in einem Café ein Gespräch zwischen deiner Großmutter und Georgia mitbekam, wusste ich, dass es ein Fehler gewesen war, dich gehen zu lassen.«
»Und, was haben sie über mich gesagt?«, fragte ich. Mein Magen krampfte sich schon mal provisorisch zusammen.
»Dass sie sich Sorgen um dich machen. Sie haben sogar das Wort ›Depression‹ benutzt. Sie haben überlegt, was sie für dich tun können. Ob Georgia wieder mit dir nach New York zurückkehren sollte.«
Als er sah, wie schockiert ich darüber war, führte er mich zu seiner Couch und setzte sich neben mich. Er knetete gedankenverloren meine Finger, während er sprach. Die Bewegung und der Druck gaben mir Halt.
»Ich habe mit Gaspard gesprochen. Er weiß so viel über uns wie Jean-Baptiste, oder vielleicht sogar mehr. Über uns Revenants. Ich habe eine Lösung gefunden, mit der wir leben könnten. Damit würde dir nicht so viel zugemutet. So könnten wir beide ein fast normales Leben führen. Möchtest du sie hören?«
Ich nickte und versuchte, die aufkeimende Hoffnung unter Kontrolle zu halten. Ich wusste ja nicht, was er mir da vorschlagen würde.
»Erst einmal möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich dir nicht von Anfang an mehr über mich erzählt habe. Aber ich wollte dich nicht mit meiner Geschichte verjagen. Das stand wie ein Hindernis zwischen uns. Deshalb möchte ich gern noch mal von vorne anfangen und dir zuerst von meiner Vergangenheit erzählen.
Wie du ja schon weißt, wurde ich 1924 geboren. In einem kleinen Ort in der Bretagne. Unser Dorf wurde recht schnell nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 besetzt. Wir haben uns nicht mal verteidigt. Zum einen fehlten uns die nötigen Waffen, zum anderen kam das viel zu plötzlich, wir hätten gar keine Verteidigung vorbereiten können.
Ich war in ein Mädchen namens Hélène verliebt. Wir waren zusammen aufgewachsen und unsere Eltern waren sehr gut befreundet. Ein Jahr war seit Beginn der Besatzung vergangen, als ich ihr einen Heiratsantrag machte. Wir waren gerade erst siebzehn, aber Alter spielte irgendwie keine Rolle in diesen unvorhersehbaren Kriegsjahren. Wir befolgten die Bitte meiner Mutter, zu warten, bis wir achtzehn waren.
Um die in unmittelbarer Nähe stationierten deutschen
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