Von der Nacht verzaubert
Bordsteinkante hielt. »Danke«, rief ich ihm hinterher. Er winkte noch, war aber schon auf dem Weg zurück in den Klub.
Als ich die Autotür öffnete, warf ich einen Blick die Straße hinunter und entdeckte Lucien, der gerade in sein Handy sprach. Er sah auf und bemerkte mich ebenfalls. Ich hob meinen Arm, um ihm zum Abschied zuzuwinken. Er lächelte selbstsicher zurück und salutierte.
Ein schlanker rothaariger Junge stand neben ihm und folgte seinem Blick, um herauszufinden, wen Lucien gerade grüßte, wandte sich jedoch schnell wieder ab.
Ich atmete scharf ein und starrte immer noch aus dem Fenster, als das Taxi schon anfuhr. Die eine Sekunde hatte ausgereicht, um den Jungen mit dem verbitterten Gesichtsausdruck zu erkennen. Es war Charles.
I ch hörte nicht, wann Georgia nach Hause kam, und schlief den halben Vormittag. Ein erwartungsvolles Gefühl erfüllte mich, als ich aufwachte.
Im Halbschlaf war mir Vincents Gesicht vom Vortag erschienen. Die Art, wie er sich mit so grüblerischem Blick im Café umsah, rief in mir gleichzeitig Sehnsucht und Stolz hervor. Der dunkelhaarige, gut aussehende Junge gehörte zu mir. Getragen von diesem wunderschönen Gedanken, öffnete ich langsam die Augen.
Dann wurde auch mein Bewusstsein wach und das Herz wurde mir schwer. Vincent gehörte nicht zu mir. Er gehörte zu einer anderen. Und schon fiel ich wieder in das dunkle Loch aus Traurigkeit und Kummer, das mich auch in den vergangenen drei Wochen gefangen gehalten hatte.
Das Haus zu verlassen, war sicher keine schlechte Idee, also entschied ich, im Café Sainte-Lucie zu frühstücken, das am Tag zuvor wiedereröffnet worden war.
Der Weg nach draußen führte mich an meinem Großvater vorbei, der in seinem Sessel saß und Zeitung las. Er sah aus wie eine ältere Version meines Vaters. Auch mit einundsiebzig hatte er noch volles Haar. Seine vornehme Statur, die Georgia geerbt hatte, war leider an mir vorübergegangen.
Er schielte über den Rand seiner Zeitung. »Wie geht’s meiner Prinzessin?«, fragte er und schob seine Lesebrille auf die Stirn.
»Gut, Papy. Ich geh mit J.D. frühstücken«, antwortete ich und hielt ein Exemplar von Der Fänger im Roggen hoch, bevor ich es in meiner Tasche verschwinden ließ. Er nahm meine Hand in seine und legte sie dann auf die Armlehne seines Sessels. Das war Opa-Zeichensprache und bedeutete, Bleib doch noch einen Augenblick.
Leise sagte er: »Mamie hat gesagt, sie machte sich Sorgen um dich. Willst du mit mir sprechen?«
Ich schüttelte den Kopf und lächelte ihn dankbar an.
»Du weißt, dass ich immer für dich da bin, wenn du mich brauchst, ja?«, fragte er und setzte sich die Brille wieder richtig auf.
»Danke, Papy«, flüsterte ich und drückte seine Hand kurz, dann machte ich mich auf den Weg.
Ich würde niemals mit ihm über meine Probleme reden können. Selbst wenn ich mich gerade von einem normalen, menschlichen Freund getrennt hätte, hätte Papy das nicht verstehen können. Mamie und er lebten in einer perfekten Traumwelt. Sie waren immer noch verrückt nacheinander und unternahmen ständig etwas, das ihnen beiden Spaß machte. Sie führten ein normales Leben. Ein gefestigtes Leben. Sie hatten alles, was ich wollte.
Die Cafébesitzerin begrüßte mich persönlich und führte mich an einen Tisch im vorderen Teil des Cafés, wo ich ungestört war. Ich nippte an meinem Café crème und verlor mich zwischen den Seiten meines Romans. Eine halbe Stunde war sicher vergangen, bevor mir auffiel, dass sich jemand zu mir gesetzt hatte. Es war Jules, der mich breit angrinste, seine haselnussbraunen Augen funkelten vor Freude.
»Also, Miss America, du hast wirklich geglaubt, du könntest einfach verschwinden und uns alle im Stich lassen? Na, da hast du dich aber gewaltig getäuscht.«
Ich musste fast lachen, weil ich so froh darüber war, ihn zu sehen, aber ich tat ganz unberührt und fragte: »Habt ihr toten Typen nichts Besseres zu tun? Verfolgt ihr mich neuerdings? Gestern Abend Charles und heute du!«
»Du hast Charles gesehen?«
»Ja, er war auch in dem Klub, in dem ich gestern war. In der Nähe von Oberkampf.« Ich sprach immer langsamer, weil sich auf Jules’ Gesicht immer mehr Fragezeichen bildeten.
»Was für ein Klub?«
»Kann ich dir gar nicht sagen, das weiß ich nicht. Es gab kein Schild oder so.«
»Hat er mit dir gesprochen?«
»Nein, ich bin gerade ins Taxi gestiegen und war schon auf dem Weg nach Hause, als ich ihn draußen stehen sah.
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