Von der Nacht verzaubert
so selten schöne junge Menschen im Haus. Um ehrlich zu sein, eigentlich nie.« Er wandte sich zum Gehen, warf mir aber noch einen Blick über die Schulter zu. »Tschüss, Kate. Und vergiss nicht, ich stehe dir die nächsten Tage komplett zur Verfügung, schließlich ist Vincent ja anderweitig beschäftigt.« Er zwinkerte. Mein Gesicht brannte. Ich ignorierte ihn geflissentlich, während er die Küche verließ.
»Was sollte das denn?«, wollte Charlotte neugierig wissen.
»Ganz im Ernst: Ich habe nicht den blassesten Schimmer«, seufzte ich.
» B leibst du zum Abendessen?«, fragte Jeanne, als Charlotte und ich gerade die Küche verlassen wollten.
»Da hab ich noch gar nicht drüber nachgedacht. Aber es wäre schön, Vincent noch mal zu sehen ... äh, ich meine, ihn zu hören«, ich musste kurz meinen Kopf über das schütteln, was ich gerade gesagt hatte, weil es so merkwürdig klang, »wenn die Jungs zurückkommen. Ja, ich bleibe gern, danke!«
Sie nickte zufrieden und nahm ihre emsige Arbeit wieder auf. Wir verließen die Küche und liefen den Korridor entlang.
»Ich werd dann jetzt mal lernen, Charlotte«, sagte ich und öffnete die Tür zu Vincents Zimmer.
»In Ordnung«, sagte sie fröhlich. »Falls es dich zu sehr ablenkt, in der Nähe eines toten Typen zu arbeiten, kannst du dich auch nach oben in die Bibliothek verdrücken. Oder in mein Zimmer. Ich bin unten und trainiere.«
»Du trainierst auch mit all den Waffen?«, fragte ich.
Sie nickte stolz und sagte: »Die Jungs haben zwar mehr Kraft als ich, aber ich bin viel kleiner und wendiger. Ich komme genauso gut mit dem Schwert klar wie alle anderen. Trotzdem mache ich lieber Karate, das ist mehr mein Ding.«
»Wow, Respekt!«, sagte ich.
»Willst du mitkommen?«, fragte sie.
»Nein, nein. Ich bleibe hier bei Vincent und lerne. Es ist irgendwie beruhigend, ihm so nah zu sein«, sagte ich. »Auch wenn er eigentlich gar nicht da ist. Was mich daran erinnert, dass ich dich noch etwas fragen wollte: Er kann nicht an zwei Orten gleichzeitig sein, oder?«
»Nein, er kann dich nicht ausspionieren, während er unterwegs ist. Außer natürlich, er lässt die Jungs allein und kommt hierher zurück. Aber das wird er nicht tun.« Sie drückte kurz meine Hand, bevor sie sich umdrehte, den Korridor zurückging und ein paar Sekunden später Richtung Kellergeschoss verschwand.
Ich rief Mamie an, um ihr zu sagen, dass ich nicht zum Abendessen nach Hause kommen würde. »Georgia hat auch was vor«, sagte sie. »Vielleicht nutzen Papy und ich die Gelegenheit und gehen essen. Wenn wir nicht zurück sind, bevor du nach Hause kommst, dann warte nicht auf uns.« Ich musste kichern, weil sie wie ein kleines Mädchen klang.
Den Nachmittag verbrachte ich damit, etwas über den Ersten Weltkrieg zu lernen, den ich viel spannender fand, seit ich jemanden kannte, der damals mitgekämpft hatte. Die Stunden verflogen geradezu. Irgendwann ging ich zu Englisch über, meinem Lieblingsfach. Deshalb war das auch eigentlich keine Arbeit für mich, sondern pures Vergnügen.
Charlottes Bemerkung schoss mir noch mal durch den Kopf. Und nein, dass Vincents Körper nur ein paar Meter weit entfernt von mir lag, lenkte mich nicht ab, es war wirklich beruhigend. Wieder wurde mir bewusst, dass ich — die Waise, die oberhalb der Wurzeln gekappt und dann in ein fremdes Land verpflanzt worden war — mich endlich zu Hause fühlte. Hier fühlte ich mich verwurzelt. Ganz.
Als ich gerade das Kapitel über Viktorianische Schriftsteller zu Ende gelesen hatte, hörte ich Vincents Handy klingeln, das sich irgendwo bei seinem Bett befinden musste. Wie merkwürdig, dachte ich. Jeder, der Vincent gut genug kannte, um ihn anzurufen, wusste doch, dass er gerade ruhte. Ich folgte dem Klingeln, das mich zu seinem Nachttisch führte. Das Handy lag in einer Schublade, ich nahm es heraus. CHARLES stand auf dem Display.
Mein Herz raste, als ich die Annahmetaste drückte. »Charles? Hier spricht Kate. Ist alles in Ordnung? Alle suchen nach dir!«
Ein Schluchzen kam durch den Hörer. »Ist Vincent da?«
»Nein, er ruht. Wo bist du?«
»Er ruht«, wiederholte Charles meine Worte laut, doch dann wurde sein Schluchzen zu einem abgehackten Wimmern. Mit gesenkter Stimme sagte er: »Hör zu, richte meinen Anverwandten aus, dass es mir leidtut. Ich wollte nicht, dass es so passiert ...« Er wurde von einem Geräusch unterbrochen, das so klang, als würde ein Schwert aus der Scheide gezogen. Es folgte ein
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