Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten
letzten Mal geweint?
Herr Landua, von der Frage nicht überrascht, stellt die Tasse auf den Tisch: Als Teilchenphysiker steht man nicht über den Dingen des Alltags – falls Sie das meinen. Wenn meine sechzehnjährige Tochter am Morgen sagt: Der Toast ist schon wieder verbrannt, kannst du dich nicht mal konzentrieren, wenn du Frühstück machst? – dann nützt mir das Wissen um den Urknall nichts. Dann versuche ich es besser zu machen, das Ei noch schöner zu braten für meine Kleine, die Grapefruit noch schöner zu öffnen.
Landua lacht, dass es ihn schüttelt.
Aber, um Ihre Frage zu beantworten, zum letzten Mal geweint habe ich wohl, als meine Frau mich verließ.
Man steht auf und stellt die Tassen auf ein Förderband, wandert zurück ins Gebäude 3, fünf Röhren ziehen sich durch den Flur, grün, gelb, blau, violett, grau, alte Türen links und rechts, vor jeder ein Aktenkasten aus Metall, es ist warm und stickig im Cern.
Darf ich schnell?, fragt Herr Landua und ruft die neueste Post ab, schreibt flink drei E-Mails.
Auf dem hellen Tisch liegt Papier, darauf, von Hand geschrieben, mathematische Formeln, ein Rucksack steht neben Landuas Stuhl, eine Sporttasche, in der Ecke hängt seine braune Jacke, die Ellenbogen mit Leder verstärkt.
Herr Landua, wenn doch, wie Sie behaupten, die Atome zu fast hundert Prozent leerer Raum sind, wie kommt es dann, dass dort auf dem Dach Krähen stehen?, wie kommt es, dass das Dach und alles, was wir sehen, solid ist, kompakt, fester Gegenstand?
Herr Landua, die Hände im Genick, beginnt zu schaukeln.
Tatsächlich sei ein Atom fast vollkommen leer, weder die Quarks noch die Elektronen hätten, sagt Landua, eine messbare Ausdehnung. Der Grund dafür, dass uns die Gegenstände des Lebens als kompakt und solid erschienen, bestehe darin, dass die Elektronen, wie eine Hülle um den Atomkern gelegt, einen eigenen Drehimpuls besäßen, den sogenannten Spin. Elektronen seien, um es mal so zu sagen, antisozial – jedes Elektron schaffe sich sein eigenes Quartier und lasse dann kein anderes da hinein. Elektronen, sagt Landua, wollten sich nicht in die Quere kommen. Und weil sie dies nicht wollten, blieben sie einander fern. Also würden Atome sich nicht durchdringen.
Und deshalb fallen Sie nicht durch den Stuhl, auf dem Sie sitzen, und der Stuhl nicht durch den Beton, auf dem er steht, und der Beton nicht durch die Erde. Aber eigentlich, sagt Herr Landua, sind Sie ja wegen unserer neuen Maschine hier, nicht wahr?
Die Gottesmaschine, sagt 219 339.
Der LHC, sagt Dr. Rolf Landua.
Am 10. September 2008 um 10 Uhr 28, von aller Welt beobachtet, schickten Physiker der Europäischen Organisation für Kernforschung Cern, wenn auch nur zur Probe, erstmals Protonen, also Bestandteile von Atomkernen, in ihr neuestes Wunderwerk, LHC, Large Hadron Collider, die größte und aufwendigste Maschine, die Menschen bis anhin schufen, das stärkste Mikroskop auf Erden, aufgestellt in einem unterirdischen Tunnel, 100 bis 150 Meter tief in französischer und Schweizer Erde, der einen vollkommenen Kreis von beinahe 27 Kilometern Länge beschreibt. An vier Stellen weitet sich dieser Tunnel zu Kavernen, vier riesige Apparate stehen darin, hoch wie Kathedralen, sogenannte Detektoren, vergleichbar in ihrer Funktion mit Digitalkameras, jede ausgestattet mit Millionen von Sensoren.
Champagner floss und auch einige Tränen, als die Hauptprobe flott gelang. Die Panne, ein Kurzschluss, kam neun Tage später und legte das Gerät für Monate lahm.
Herr Landua sagt: Diese Protonen bewegen sich mit 99,9999991 Prozent der Lichtgeschwindigkeit im Kreis, 299 792 Kilometer pro Sekunde, und kollidieren schließlich genau dort, wo die Detektoren stehen, unsere Registriergetüme.
Aber weshalb heißt die Maschine, wenn sie doch Protonen zum Rasen bringt, Hadron Collider und nicht Proton Collider?
Weil man, sagt Landua, dereinst nicht nur Protonen, sondern auch sogenannte Schwerionen durch den Ring jagen werde, Bleikerne zum Beispiel. Hadron sei ein Begriff für alles, was aus Quarks bestehe, also Protonen, Neutronen, alle Atomkerne.
Und wie bringen Sie diese Teilchen auf Touren?
Im der Mitte des Tunnels, der seit Jahren schon bestehe, verliefen zwei enge Röhren, 27 Kilometer lang, darin, so weit wie möglich, herrsche Leere, ein Hochvakuum, wie es im Weltraum zu finden sei, nur noch eine Million Teilchen pro Kubikzentimeter, auf dass die Protonen, um die es ja gehe, auf ihrem Weg zum Experiment sich nicht mit
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