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Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten

Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten

Titel: Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel & Kimche AG
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folgen?
    Nein, sagt der Besucher Nummer 219339, aber das macht nichts.
    Im Chrysler Voyager SE, mit Gurten an die Sitze gefesselt, fährt man zurück zum Cern, Nebel drückt das Land, Laub raschelt, Route Bakker, Route Becquerel, alte Türen links und rechts, Herr Landua liest seine Post.
    Glauben Sie an Gott, Rolf Landua?
    Gott, sagt Landua, erkenne er, wenn überhaupt, vielleicht in den Gesetzen der Physik, der Natur. Der Mensch, zum Beispiel, könne nicht fliegen, weil die Gravitation ihn nicht fliegen lasse. Und demnach, nach seiner persönlichen Vorstellung, laute Gottes erstes Gebot: Du sollst nicht fliegen.
    Dr. Landua lacht laut.
    Aber Sie möchten, dass es ihn gibt?
    Wenn er mir erzählt, wie alles wurde und ist, sagt Herr Landua und schaukelt froh in seinem Stuhl.
    Und falls es ihn gibt, was hat er vor mit dieser Welt?
    Am derzeitigen Ende der Entwicklung, die mit dem Urknall vor 13 700 Millionen begann, steht das Bewusstsein des Menschen – meiner Ansicht nach, falls wir überleben, werden wir eine Art Gesamtintelligenz entwickeln, vielleicht. Vielleicht spielt der einzelne Mensch irgendwann in gewisser Weise die Rolle eines Neurons in einem großen Ganzen. Niemand ist mehr fähig, allein alles zu verstehen. Man vernetzt sich zu einem riesigen Menschheitsgehirn.
    Ähnliches, sagt er, geschehe ja bereits hier am Cern. Die Datenmenge, die man gewinne, wenn Protonen kollidierten, 600 Millionen Mal in jeder Sekunde, werde nur kollektiv zu begreifen sein, selbst wenn Hunderte von Computern eine Vorauswahl träfen. Die Daten, um sie zu verarbeiten, würden auf Hunderttausende von Computern in aller Welt verteilt werden, Tausende von Wissenschaftlern und Doktoranden würden dann, wenn die Maschine in zwei, drei Jahren erste Messungen liefere, kollektiv versuchen, sich ein Bild davon zu machen, was war, was ist.
    Sind Sie glücklich, Rolf Landua?
    Ich glaube, ich habe das Talent dazu.
    Er schweigt, dreht sich zu seinen Bildschirmen, zu den Büchern an der Wand, Elementarteilchen und inflationärer Kosmos , The Da Vinci Code von Dan Brown, unterstes Brett, und stopft dann die Bananen für die Jüngere, die Strohhalme für die Ältere in den Rucksack. Manchmal, wenn ihn die Töchter vom Sofa stoßen, weil in der Glotze gerade die neueste Folge ansteht, denkt sich Dr. rer. nat. Rolf Landua die Geschichte der Welt als Fernsehserie, 137 Folgen. Jede, hundert Minuten lang, erzählt, was im Lauf von hundert Millionen Jahren geschah. In Folge 1, im ersten Bild, ist der Urknall zu sehen, in Folge 4 leuchten bereits erste Sterne, in Folge 82 das Sonnensystem, Staub verklebt zu einer Kugel, die Erde. In Folge 132 gedeihen erste Pflanzen und Tiere, und in Folge 137, zwei Sekunden vor dem Ende der Soap, erreicht der Homo sapiens Europa, und er, Rolf Landua, geboren am 17. Oktober 1954 in Wiesbaden, von Undenkbarem entzündet, seit er denken kann, spielt im allerletzten Bild eine kleine Rolle ganz am Schluss, nicht länger als eine Hundertstelsekunde, ein Wimpernschlag, ein halber.
    Was möchten Sie noch wissen?
    Wie sieht ein Quark aus?, fragt 219 339.
    Keine Ahnung, ehrlich, sagt Herr Landua.

Druckhinweis
    Zweihundertsechzig Tage, in: DATUM , November 2012
    Eigentlich eine Liebesgeschichte, in: REPORTAGEN , Oktober 2011
    Das Ende der Scham, in: Magazin SonntagsBlick , 8. 4. 2007
    Jenseits von Kreuz und Kragen, in: Stern , 5. 6. 2012
    Puccini statt Pralinen, in: REPORTAGEN , Februar 2012
    Waterloo, Austerlitz, in: DIE ZEIT , 31. 3. 2005
    Der Tunnel der Erkenntnis, in: DIE ZEIT , 22. 10. 2009
    Straße der Erlösung, in: ZEITmagazin , 30. 12. 2009
    Mit keiner Menschenseele, in: Das Magazin , 2. 2. 2002
    Niemandsmenschen, in: Das Magazin , 10. 11. 2007

Über den Autor
    Erwin Koch
    Erwin Koch , geboren 1956, lebt in der Nähe von Luzern. Er ist Journalist und schreibt Hörspiele und Reportagen. Von 1984 bis 1990 arbeitete er als Redakteur, anschließend als Reporter für verschiedene Medien, darunter DIE ZEIT , GEO und das Frankfurter Allgemeine Zeitung Magazin . Von 1999 bis 2002 war er als Reporter beim Spiegel tätig, seit 2002 schreibt er unter anderem für Das Magazin . Erwin Koch erhielt mehrfache Auszeichnungen, darunter zweimal den Egon-Erwin-Kisch-Preis und 2003 für Sara tanzt den Mara-Cassens-Preis für den besten deutschsprachigen Debütroman.

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