Von jetzt auf gleich
und drehten sich um, um mich zum Altar schreiten zu sehen.
»Bist du so weit, Jordy Belly?«, fragte Walter, und alles stand still. Plötzlich löste sich der traumhafte Nebel auf, der in der letzten halben Stunde heraufgezogen war. All die Beinahe-Erinnerungen verbanden sich miteinander, und aus dem Tropfen wurde eine Flutwelle. Jetzt sah ich alles ganz klar. Glück im Unglück, mit Diamanten. Übers Ohr hauen. Sam’s jugendlicher Angriff auf meine frischgestochenen Ohrläppchen, womit sie aus dem Stegreif eine lebenslange Tradition der Schikane hervorrief. Entsetzlich angetraute Ehefrau.
Und Jordy Belly. Ich kannte das. Und ich wusste, was es damit auf sich hatte. Das Geleebonbon mit Mandarinengeschmack. Ich wurde geboren, als Reagan Präsident war und Geleebonbons schwer in Mode kamen, und wegen seiner Liebe für Bonbons, hat der sonst völlig unpolitische Walter einige Gemeinsamkeiten mit Reagan festgestellt. Von dem Vorrat, den er in seiner Schreibtischschublade im Arbeitszimmer angelegt hatte, hatte er immer die mit Mandarinengeschmack aufgehoben, für mich, für Jordy Belly. Ich
erinnerte
mich.
Walter gab mir einen kleinen Schubs, und wir setzten uns in Bewegung, um den Gang zum Altar hinunterzugehen. Ich schaute in die Bänke zu beiden Seiten und erkannte Gesichter. Nicht alle, aber die meisten. Es war fast wie ein Feld mit Blumen, die bei jedem Schritt aufblühten – jede Blume symbolisierte jemanden aus meinem Leben. Mrs Winchell, die Nachbarin, die niemand leiden konnte, die uns aber zu Weihnachten immer Obstkuchen rübergebracht hatte – den meine Mutter immer direkt an das Kinderkrankenhaus weitergegeben hatte. Mrs Redding, meine Klavierlehrerin. Ich hatte seit fünfzehn Jahren nicht gespielt, aber ich erinnerte mich an sie. Der gemeine Onkel Ritchie. Er war eigentlich gar nicht mit uns verwandt, aber er war Walters bester Freund. Bei ihm durfte ich immer heimlich am Bier nippen.
Und Dirk. Da war er … Und sah wie immer gut aus in seinem Smoking – das Arschloch.
Böse Erinnerungen über unsere gemeinsame Zeit gingen mir durch den Kopf – ein trauriges, schäbiges Bild nach dem anderen. Ich erinnerte mich an die verschiedenen Frauen, denen er schöne Augen gemacht hatte, mit denen er geflirtet, mit denen er mich betrogen hatte. Der vergessene Geburtstag. Wie ich das erste Mal im Krankenhaus wach geworden war und alle mich wie eine Laborratte auseinandergenommen hatten. Und dann wie ich das zweite Mal im Krankenhaus aufgewacht war. Und Dirk mich angelogen hatte, dass wir noch zusammen waren, obwohl ich eindeutig mit ihm fertig war. Erinnerung über Erinnerung über Erinnerung … bis wenige Minuten vor der Hochzeit, als Dirk mir seine ekelhafte Kuh-Zunge ins Ohr gesteckt hatte. Das patentierte Michael-Dirkston-Ohr-Kunststück. Alles kam schlagartig zurück.
Wie konnte das passieren? Mein Bräutigam sah mir in die Augen und zwinkerte. Ich ging die Stufen hinauf und befand mich mitten in meiner eigenen Hochzeitszeremonie. Es war total surrealistisch.
Der Pfarrer nickte uns zu, und ich atmete einmal tief durch. Ich wusste nicht so genau, wann ich mit der Neuigkeit herauskommen sollte, dass es keine Hochzeit geben würde. Wann wäre wohl der richtige Zeitpunkt, um die Hand zu heben?
»Wir sind hier heute zusammengekommen, um Jordan Landau und Michael Dirkston im heiligen Bund der Ehe zu vereinigen«, sagte der Pfarrer.
Genau
jetzt
, entschied ich. In dem Moment, als ich die Worte »heiligen Bund der Ehe« im selben Satz wie unsere beiden Namen hörte, musste diese tragikomische Farce beendet werden.
»Herr Pfarrer …« Ich räusperte mich und hob die Hand.
»Ja?«
»Ich bin dagegen«, sagte ich.
Man konnte hören, wie die Leute in ihren Sitzen hin und her rutschten, und dann Gemurmel in der Menge. Ich drehte mich um, um sie anzusehen.
»Hi«, sagte ich zu allen. Und ich schaute in die Kirche und sah alle, die zu meiner Hochzeit gekommen waren.
Meine
Hochzeit. Mit Dirk. Abscheulich.
»Hi«, antworteten mir ein paar irritierte Gäste.
»Ich bin’s, Jordan. Ich meine – ich weiß, dass ihr wisst, dass ich es bin, aber ich meine, ich bin’s, ich selbst. Ich bin wieder da. Ich … tja, ich habe mein Gedächtnis zurückbekommen. Jetzt gerade und noch nicht ganz, aber ich ERINNERE mich.«
Es gab »Oohs« und »Aahs« zu hören und »Wie wunderbar«, Lächeln überall – außer auf Dirks Gesicht. Er sah unglaublich nervös aus.
»Dirk, ich vermisse etwas. Wo ist mein
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