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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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Sie können nicht aus ihrer Haut.« Wieder folgte ein Lachen, das aufgesetzt und unecht klang, und dann fragte er abrupt: »Wie alt war das Mädchen eigentlich?«
    »Welches Mädchen?« Ich wusste natürlich, wen er meinte, aber ich wollte ihn ein wenig zappeln lassen. »Das Hirtenmädchen auf dem Bild?«
    »Nein, die Tochter, von der du gesprochen hast.«
    »Warum interessiert dich das?«
    »Nur so«, behauptete er und schien zu bemerken, dass er ein schlechter Lügner war, denn sofort setzte er hinzu: »Ist doch ein komischer Zufall, dass du das Mädchen zu kennen scheinst, oder?«
    »Ich kenne das Mädchen nicht, ich glaube nur, dass ich es zwei Mal gesehen habe.«
    »Woher willst du dann wissen, dass es die Tochter der Frau auf dem Bild ist?«
    »Ich weiß es eben«, antwortete ich boshaft.
    »Ja, ja, schon gut«, erwiderte er gereizt. »Und wie alt war es?«
    »Vielleicht sechzehn Jahre alt.«
    Seine Reaktion war bemerkenswert, denn er schien tatsächlich erleichtert oder erfreut zu sein. »Sechzehn, was?«, lachte er jovial. »Beneidenswertes Alter.«
    »Sie sah nicht beneidenswert aus«, entgegnete ich und merkte, wie die Wut in mir hochstieg. »Trotz ihres jungen Alters.«
    »Ach ja?«, sagte er und räusperte sich. »Trotzdem ein seltsamer Zufall.«
    »Kannst ihr ja das Bild schenken, wenn du es nicht mehr brauchst.«
    »Das Bild schenken? Wieso?« Er starrte zu Boden und wusste nicht, wohin mit seinen Händen. »Ach so!«, rief er dann, »das war ein Witz, was? Haha!«
    »Ein Witz«, antwortete ich. »Natürlich.« Damit ließ ich ihn stehen und verschwand in meinem Zimmer.
    Eine halbe Stunde später saßen Mr. Barclay und ich im Fond seiner zweispännigen Victoria-Kutsche und wurden von einem livrierten Kutscher nach Southwark chauffiert. Die dichten Regenwolken hatten sich verzogen, und auch der Nebel der letzten Nacht hatte sich so weit gelichtet, dass man von der nördlichen Uferpromenade bis zur Southwarker Seite des Flusses schauen konnte. Während wir auf der breiten Prachtstraße fuhren, schwärmte Mr. Barclay beim Anblick der Schlote, Fabrikgebäude und Lagerhallen von seiner Brauerei und beschwor die Vorzüge seines Gewerbes, als wäre er der Führer einer Touristengruppe in seiner Fabrik. Ich selbst hatte vor gut einem halben Jahr, kurz nach meiner ersten Begegnung mit den Barclays, an einer solchen Führung teilgenommen und während der zweistündigen Tour – oder vielmehr Tortur – alles übers Mälzen, Schroten und Maischen erfahren. Zwar hatte ich am Ende der Führung das meiste wieder vergessen, trotzdem wurde ich mit einer Bierverkostung quer durch die Barclay’schen Biersorten belohnt.
    »Dort drüben ist Anchor Terrace«, sagte Mr. Barclay, als wir die Southwark Bridge überquerten und hinter der Bankside das riesige Firmengelände von Barclay, Perkins & Co. sahen. »Das oberste Stockwerk wird für euch ausgebaut. Siehst du? Die Mauern werden gerade verputzt, und das Dach wird neu gedeckt. Von dort oben kann man bei guter Sicht bis nach Hampstead schauen.«
    »Und auf die Fabrik«, ergänzte ich und lächelte gequält.
    »Es wird euch gefallen«, sagte er mit dem Brustton der Überzeugung. »Ihr werdet schon sehen. Meredith ist bereits sehr gespannt.« Aus seinen Worten schloss ich, dass auch seine Nichte unser neues Zuhause bislang noch nicht zu Gesicht bekommen hatte.
    Anchor Terrace war ein symmetrisches, eher schlichtes Gebäude aus hellem Backstein, das mit seiner Nordfassade beinahe ans Themseufer stieß. Früher hatte das Haus einmal als Alterswohnsitz für verdiente Mitarbeiter der Brauerei gedient, doch inzwischen waren dort vor allem Büros und Lagerräume untergebracht. Tatsächlich konnte ich oben auf dem Dach eine Art Gerüst erkennen, auf und hinter dem eifrig gewerkelt wurde.
    »Von eurer Terrasse führt eine Stiege bis hinüber zum Brauhaus«, fuhr Mr. Barclay fort und lächelte beglückt. »Dort fährt ein elektrischer Aufzug hinunter in den Fabrikhof. Du hast also Familie und Arbeit auf nächstem Raum beisammen und musst das Gelände gar nicht mehr verlassen.«
    »Wie praktisch«, sagte ich, obwohl mir bei dem Gedanken speiübel wurde. Ich war mir sicher, dass auch Meredith nicht begeistert davon wäre, über einer nach Hopfensud und Malzmaische stinkenden Brauerei zu wohnen. Bei meiner fast reflexartigen Abneigung gegen meine fremdbestimmte Braut vergaß ich mitunter, dass sich auch Meredith ihren zukünftigen Gatten nicht freiwillig ausgesucht hatte. Aus

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