Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Ich zog ihm die nassen Kleider aus und wickelte ihn in die stinkende Decke, die Edmund mir am Freitag gegeben hatte. Simeon ließ alles wie ein kleines Kind über sich ergehen, machte keinen Mucks und war wie erstarrt.
»Dunkel hier drin«, war alles, was er sagte, als er wie ein Säugling eingewickelt auf dem Bett saß. »Und feucht.«
»Besser als der Friedhof«, sagte ich, fand einen Kerzenstummel auf dem Tisch, entzündete ihn und setzte mich neben Simeon aufs Bett, obwohl er bestialisch stank. »Geht’s wieder?«, fragte ich und schaute zu Boden, wo sich eine Pfütze aus Regenwasser gebildet hatte, das durch die Decke auf die gestampfte Erde tropfte.
»Nein«, antwortete er, »aber man gewöhnt sich dran.«
Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander, Schulter an Schulter, und starrten ins Nichts. Als ich bereits dachte, er sei eingeschlafen, fuhr er plötzlich hoch und schien sich an etwas zu erinnern. Er schaute mich verwundert an und fragte: »Bist du nicht im Gefängnis?«
»Hab nichts verbrochen.«
»Aha.« Er nickte, obwohl er offensichtlich nichts verstand, und sagte plötzlich: »Ich hab das Mädchen wiedergesehen.«
»Wann? Wo?«
»Im People’s Palace. Sie war auch da. Am gleichen Abend wie Swinburne.« Wieder redete er in seinem seltsam abgehackten Stakkato. »Hat mich angesprochen. Wollte wissen, woher ich ihre Mutter kenne. Komisch, oder?«
»Du hast ihre Mutter von einem Foto abgemalt, hat Gray erzählt.«
»Gray?«
»Unser Laufbursche im Crown. Du warst gestern Morgen dort.«
»War ich das?« Er schob die Unterlippe vor und nickte dann. »Ja, kann sein.«
»Woher hattest du das Foto?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Wer war der Auftraggeber des Bildes?«
Er wiederholte die Geste und betonte sie durch ein Abwinken.
»Weißt du es nicht oder willst du es mir nicht sagen?«
»Was kümmert dich das verdammte Gemälde? Ich hab keine Ahnung, wo es geblieben ist. Interessiert mich auch nicht. War ohnehin Schund.«
»Es hängt im Büro meines Vaters.«
Er schaute mich verständnislos an und sagte: »Deines Vaters?« Dann schloss er die Augen, seufzte tief, und sein Kinn sackte auf die Brust.
»Simeon!«, rief ich und schüttelte ihn.
»Was denn?«, fauchte er und fuhr erschrocken in die Höhe. »Was ist?«
»Ich kenne das Gemälde«, sagte ich und schüttelte ihn erneut. »Ein Hirtenmädchen in weißer Kleidung, mit allerlei niedlichem Viehzeug auf der Weide. Ein fürchterliches Bild.«
»Eine Auftragsarbeit«, sagte er und hob entschuldigend die Hände. »Eine idyllische Pastorale. So wollte es der Mann. Also hat er sein dämliches Hirtenbild bekommen. Ich war damals froh, überhaupt mit Öl und auf Leinwand malen zu können und dafür bezahlt zu werden. Weiß der Teufel, wie der Kerl ausgerechnet auf mich gekommen ist. Vermutlich hat ihm einer verraten, dass ich nicht viel verlangen kann.« Er schaute mich verwirrt an und fragte: »Und das Bild gehört jetzt deinem Vater? Bist du sicher?«
»Er behauptet, dass er es vor einigen Jahren bei einer Auktion ersteigert hat.«
»Aber du glaubst ihm nicht.«
Diesmal zuckte ich mit den Schultern und fragte: »War mein Vater der Mann, der das Gemälde in Auftrag gegeben hat?«
»Bestimmt nicht«, antwortete Simeon und schüttelte schwerfällig den Kopf. »Das war kein Gentleman. Vielleicht ein Handwerker oder Ladenbesitzer.«
»Vielleicht hat er sich verkleidet.«
»Du meinst, wie der Vater, so der Sohn?« Er lachte und winkte erneut ab. »Das weiß ich nicht mehr so genau. Das ist mindestens acht Jahre her, Rupert. Wenn nicht sogar mehr. Damals hab ich noch nicht in St. Giles gewohnt.«
»Dein Bett im Arbeitshaus ist übrigens weg«, sagte ich. »Du sollst die Kleider zurückbringen und deinen Koffer holen, lässt der Pförtner ausrichten.«
»Hab ja jetzt ein neues Bett«, antwortete er, lachte albern und klopfte auf die klamme Matratze. »Ich bin müde, Rupert. Können wir nicht morgen …?«
»Sonst kannst du dich an nichts erinnern?«, unterbrach ich ihn und verhinderte, dass er sich zur Seite fallen ließ. »Hast du das Bild geliefert oder wurde es abgeholt?«
»Abgeholt«, antwortete er und gähnte. »Wenn ich mich nicht irre.«
»Von dem Mann, der dir den Auftrag gegeben hat?«
Wieder gähnte er. Dann runzelte er die Stirn und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er schließlich. »Von einem Jungen. Vermutlich ein Laufbursche. Der hässlichste Junge, den ich je gesehen habe. Spindeldürr, mit abstehenden Ohren
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